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22 - Im Reiche des silbernen Löwen III

22 - Im Reiche des silbernen Löwen III

Titel: 22 - Im Reiche des silbernen Löwen III Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl May
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beruhigende Resultat, welches er sich aus der Stirn frottiert hatte. Dann kniete er nieder, um die Pflaumen in den Korb zu lesen. Dabei betrachtete er jede einzelne mit einem Blick, als ob er sie sich ganz besonders vorgemerkt habe. Aber plötzlich fuhr er halb empor. Er hatte etwas Wichtiges gesehen. Das waren die Fußstapfen, welche ich in dem weichen Boden zurückgelassen hatte.
    „Wen schabar nahl – wer Ausdauer hat, dem gelingt es!“ rief er aus.
    Er glaubte wohl, auch jetzt noch immer gerieben und nachgedacht zu haben. Nun erhob er sich und hinkte den Spuren langsam nach. Sie führten ihn natürlich her zu mir. Als er um die Ecke des Gebüsches trat, steckte ich soeben eine Pflaume in den Mund. Zunächst blieb er wie eine Salzsäule vor mir stehen. Er bewegte kein Glied. Nicht einmal seine Wimper zuckte.
    „Wer bist du?“ fragte ich.
    „Du – du – du hast die Pflaumen – – – meines Ustad gestoh – – –“
    Weiter kam er nicht. Die Stimme versagte ihm. Also diese Früchte waren für den Ustad reserviert! Da konnte ich ruhig sein; der gönne sie mir gewiß. Aber dieser meiner Ruhe stand ein ebenso schnelles wie gewaltsames Ende bevor, denn der Lahme bekam plötzlich seine ganze Bewegungsfähigkeit, sogar zehnfach gesteigert, wieder, und ehe ich nur den Gedanken hätte fassen können, daß so etwas möglich sei, warf er sich mit aller Macht über mich her, schlang die überlangen Arme anderthalbmal um mich herum und begann, aus Leibeskräften um Hilfe zu schreien. Nach den Ausdrücken, die aus seinem Mund flossen, war eigentlich zu schließen, daß er eine ganze Bande von Dieben, Räubern und Mördern ergriffen habe. Er war ein außerordentlich kräftiger Mann, mich aber hatte die Krankheit so geschwächt, daß ich vergeblich versuchte, von ihm loszukommen. Glücklicherweise dauerte es nur ganz kurze Zeit, bis mir die von ihm herbeigerufene Hilfe kam. Wahrscheinlich sah er sie, denn er hörte auf mit Schreien; statt seiner aber hörte ich die fette Stimme der sich eiligst nähernden ‚Festjungfrau‘.
    „Wo sind denn die Räuber, die Mörder?“ fragte sie.
    „Hier, hier! Komm, komm!“ antwortete er.
    „Wen haben sie ermordet?“
    „Die Pflaumen, die Pflaumen des Ustad, die Früchte meines lieben, hohen Herrn!“
    „Unsinn! Pflaumen werden doch nicht ermordet!“
    „Komm nur; komm, und sieh ihn an!“
    Sie kam, sie stand schon da.
    „Zeig Tifl!“ gebot sie ihm.
    Tifl heißt ‚mein Kind‘, sogar ‚mein kleines Kind‘. Er ließ mich los. Ich hatte im Gefühl meiner Ohnmacht mich ganz passiv verhalten und konnte nun gar nicht anders, ich mußte ihm lachend in das grimmige Kindergesicht sehen. Wenn dieser Mann ein ‚kleines Kind‘ war, welche Länge mußten da die großen Kinder wohl hier zu Lande haben! Die ‚Festjungfrau‘ war zunächst auch ganz ohne Worte. Sie schien nicht recht zu wissen, aus wem von uns dreien sie klug zu werden habe.
    „Das ist er!“ sagte er, indem er beide Zeigefinger schnurstracks auf mich richtete.
    „Wer?“ fragte sie.
    „Der Dieb.“
    „Was hat er gestohlen?“
    „Die Pflaumen! Dort liegen noch welche!“
    Er deutete nach den Bäumen. Sie schaute hin, sah die Früchte unten liegen, schlug die dicken Händchen patschend zusammen und jammerte:
    „Die besten, grad die allerbesten!“
    „Aufgehoben haben wir sie für unsern Herrn!“ klagte er mit.
    „Bis zur Stunde der höchsten Reife!“ fuhr sie fort.
    „Dann erst ißt er sie, seine Lieblinge!“ fügte er hinzu.
    „Er hat wohl noch genug!“ tröstete ich.
    Da sahen beide mich so erstaunt an, als ob ich etwas ganz Unbegreifliches gesagt habe. Dann fuhr mich der Lange zornig an:
    „Sie sind alle sein, alle, alle! Wer bist du denn?“
    „Ja, wer bist du? Das wollen wir wissen!“ erklärte mir die Besitzerin des frohsinnigen Näschens.
    „Das wißt ihr nicht?“ antwortete ich.
    „Nein“, sagte sie.
    „Ihr habt mich noch nicht gesehen?“
    „Noch nie! Doch, wer du auch seist, wie darfst du es wagen, hier Früchte zu stehlen! Kein einziger Dschamiki stiehlt. Du mußt ein Fremder sein!“
    „Aus der Fremde kam ich allerdings, doch gehöre ich zum Haus. Ich bin des Ustad Gast.“
    „Gast? Seit heut?“
    „Seit Wochen schon.“
    „Seit Wo – Wo – – – Wochen – Wo – – –!“
    Das runde, kleine Mündchen blieb ihr offen stehen, so offen, daß man die kerngesunden, perlengleichen Zähne sehen konnte. Die Wänglein verloren die Farbe; das Kinn zeigte sich

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