22 - Im Reiche des silbernen Löwen III
Hand, voranzugehen. Da ermannte er sich, tat einige schnelle, lange Schritte bis zu mir her, verbeugte sich und sagte:
„Effendi, ich bin ein kleines Kind.“ Ich mußte lächeln und nickte ihm zu.
„Aber ich bin nicht klein!“ fuhr er fort.
Ich nickte wieder.
„Ich bin ein Mann!“ versicherte er.
Ich nickte abermals.
„Ich habe Mut, sehr viel Mut. Ich fürchte mich niemals, vor keinem einzigen Menschen!“
„Das hast du an mir bewiesen“, bestätigte ich.
„Ja, an dir! Sogar an dich habe ich mich gewagt! Man hat mich dafür sehr gescholten; aber ich behaupte, daß ich richtig gehandelt habe. Sage du es selbst: Hattest du die Pflaumen meines Herrn herabgeworfen?“
„Ja, das hatte ich.“
„Und mir aber sind sie anvertraut. Habe ich gegen meine Pflicht gesündigt?“
„Nein, du bist ein treuer Wächter im Garten deines guten Herrn.“
Da breitete sich der Ausdruck herzlichster Befriedigung über sein kleines Gesicht. Er drehte sich zu der Köchin um und sagte:
„Hast du es gehört, o Pekala?“
Pekala ist ein türkischer Name und bedeutet ‚die Köstliche‘. Sie machte ein sehr ernsthaftes Gesicht, womit sie aber fast grad das Gegenteil von der beabsichtigten Wirkung hervorbrachte, und antwortete ihm:
„Ich habe es freilich gehört, aber der Effendi ist gütiger gegen dich, als du verdienst. Merke dir: Man hat sogar auch Pflaumendiebe höflich zu behandeln, falls man nicht genau weiß, wer oder was sie sind. Du bist eben unser kleines, unerfahrenes Kind, welches nichts als Fehler macht. Und nun tu, was ich dir befohlen habe!“
Er wandte sich mir wieder zu, und zwar mit einer so komisch verlegenen Miene, daß sein Gesicht jetzt ganz genau demjenigen eines ausgescholtenen kleinen Knaben glich.
„Soll ich es wirklich machen, Effendi?“ fragte er mich.
„Was?“
„Pekala hat mir befohlen, dich um Verzeihung zu bitten.“
„Wofür?“
„Daß ich dich als Spitzbube behandelt und festgehalten habe.“
„Höre, lieber Tifl, das hast du recht gemacht!“
„Recht?“ fragte er in freudiger Überraschung.
„Ja. Pekala meint es gut mit mir. Sie will das Unrecht, welches ich tat, entschuldigen. Aber ich war wirklich ein Pflaumendieb. Ich habe dir also nichts zu verzeihen, sondern ich lobe dich, denn du hast deine Pflicht getan.“
Da nahm sein Gesicht einen frohen, weichen, und doch beinahe männlichen Ausdruck an.
„Du tadelst mich also nicht?“ fragte er.
„Nein.“
„Sondern du hast mich gelobt, wahrhaftig gelobt?“
„Ja.“
„Effendi, das werde ich dir nie und nie vergessen! Mein Herz ist dein Eigentum. Wir gehen jetzt miteinander hinunter in das Dorf. Hast du vielleicht eine Besorgung? Soll ich dir etwas mitbringen?“
„Nein, lieber Tifl.“
„Lieber Tifl! Hast du es gehört, meine gute Pekala? Lieber Tifl hat er gesagt! Andere Europäer sind ganz anders als er. Er ist grad so wie ich: er ist nicht stolz. Es bleibt dabei: mein Herz ist sein. Komm!“
Er griff nach ihrer Hand, um sie fortzuziehen. Aber sie blieb noch stehen. Ihr Auge war auf meine Brust gerichtet; ich dachte nicht daran, weshalb.
„Hast du die Rose lieb, Effendi?“ fragte sie mich.
„Ja, sehr“, antwortete ich. „Jede Blume. Blumen gleichen den Seelen guter Menschen; sie erfreuen uns, ohne daß diese Freude uns später betrübt. Warum fragst du mich?“
„Weil du die Rose aufgehoben hast, welche ich verloren habe. Es ist die Rose einer niedrigen Dienerin. Erlaubst du mir, dir täglich einige zu pflücken?“
„Ja. Ich nehme sie sehr gern von dir, o Pekala.“
„Ich danke dir! Ömürün tschok ola!“
Das sind türkische Worte. Sie bedeuten den Wunsch: Möge dein Leben lang sein! War sie etwa osmanischer Abstammung?
„Allah billingdsche olsun – Gott sei mit dir!“ antwortete ich.
Da schlug sie die kleinen, dicken Hände freudig zusammen und sagte:
„Du verstehst türkisch?“
„Ja.“
„So darf ich in meiner Muttersprache mit dir reden, wenn du zu mir sprichst?“
„Das sollst du sogar, damit ich von dir lerne!“
Da war sie es, die sich stolz mit der Frage an ihren Tifl wendete:
„Hast du es gehört? Lernen will er von mir! Auch mein Herz ist sein Eigentum. Jetzt komm!“
Sie machten mir eine sehr tiefe und darum sehr höfliche Verbeugung, bei welcher er, der Lange, natürlich weit herablassender verfahren mußte als sie. Dann entfernten sie sich. Wie leicht es doch ist, Menschenherzen zu erfreuen! Warum tut man das so wenig?
Kurze Zeit hierauf kam Kara aus
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