22 - Im Reiche des silbernen Löwen III
fallen. Freilich gelang es ihm nicht, in ruhigem Zusammenhang zu sprechen. Zwar ich hörte ihm zu, ohne ihn zu stören, aber seine Mutter unterbrach ihn mit ungezählten Fragen und Bemerkungen. Ihr Liebling hatte ja etwas sehr Wichtiges erlebt, etwas, was Hadschi Halef Omar, wenn er jetzt bei uns gewesen wäre, ganz unvermeidlich eine ‚Heldentat‘ genannt hätte, und diese Tat mußte natürlich in mütterlichem Stolz von allen Seiten auf das sorgfältigste beleuchtet werden. Als er geendet hatte, sah sie mich an und fragte:
„Du hast gehört, o Sihdi, was er, die Wonne meiner Augen, uns erzählte. Nun sag, was du an seinem Verhalten auszusetzen hast!“
„Nichts“, antwortete ich.
„Wirklich nichts?“
„Nein.“
„Glaubst du, daß sein Vater, mein guter Hadschi Halef Omar, derselben Meinung sein würde?“
„Ja.“
„Ich danke dir! Denn das ist eine Anerkennung, welche gar nicht größer sein könnte! Bedenke doch, wie jung er ist. Ihr beide aber seid erfahrene Männer. Wenn er so gehandelt hat, wie ihr selbst gehandelt hättet, und du sagst ihm das, so ist das ein Lob, zu dem ich nichts hinzuzufügen habe. Für die Sorge aber, welche die Mutter um ihn hegt, ist er doch wohl etwas zu verwegen gewesen. Man soll Mut und Tapferkeit besitzen; aber man braucht sich doch nicht so mit aller Gewalt der Gefahr auszusetzen.“
„Hat er das getan?“
„Ja.“
„Inwiefern?“
„Insofern, als er so offen gesagt hat, daß er der Gast der Dschamikun sei. Es wäre besser gewesen, wenn er das verschwiegen hätte. Dann hätten sie ihn nicht als ihren Gefangenen betrachten dürfen.“
„Es ist in Wirklichkeit ja gar nicht dazu gekommen, daß man ihn als solchen behandelt hat.“
„Aber man hätte es sehr leicht tun können! Man war ja berechtigt, ihn sofort zu töten, und da er keine anderen Waffen als sein Messer besaß, hätte er sich gar nicht dagegen wehren können.“
„So schnell geht das nicht!“
„In der Regel nicht. Jedem Blutgericht pflegt eine Verhandlung vorauszugehen. Aber du weißt ja ebenso gut wie ich, daß es keine Regel gibt, die nicht ihre Ausnahmen hat. Du hast Kara gelobt, und ich stimme in dieses Lob mit ein; dabei aber habe ich seine allzu große Kühnheit zu tadeln, ohne zu berücksichtigen, ob du dich an diesem Tadel beteiligst oder nicht. Er mußte unbedingt verschweigen, daß er jetzt zu den Dschamikun gehört.“
„Das hätte, wie er ja selbst ganz richtig gesagt hat, ihn zu Lügen führen müssen.“
„Lügen! Gibt es nicht Notlügen?“
„Für mich nicht.“
„Freilich gibt es die. Man wird durch die Not dazu getrieben, und darum sind sie erlaubt!“
„So sagt man. Aber grad daß es Notlügen gebe, das ist die größte aller Lügen. Ich nenne sie anders.“
„Wie?“
„Feigheitslügen! Es ist gar nicht schwer, sich bei jeder Lüge, die man macht, einen zwingenden Grund zu denken, den man dann als ‚Not‘ bezeichnet. Aber nicht diese größere oder geringere Not ist es, welche zu der Lüge zwingt, sondern die Feigheit, mit welcher man vor ihr die Flucht ergreift, verhindert den furchtsamen Menschen, die Wahrheit offen zu bekennen. Es gibt keine Not, und wäre es sogar der Tod, die so groß wäre, daß die Folgen der Notlüge nicht noch weit über sie hinauswachsen könnte. Das hat unser Kara trotz seiner Jugend eingesehen, und darum ist es zwar sehr tapfer, aber noch viel mehr klug von ihm, daß er sich so fest vorgenommen hat, niemals, und würde er auch noch so sehr zu ihr gedrängt, eine Lüge zu sagen.“
„Aber wenn er sich nun durch sie das Leben retten kann? Sein Leben gehört doch nicht ihm allein, sondern auch mir und seinem Vater und uns allen. Er hat alles, alles zu tun, um es sich und uns zu erhalten!“
„Gibt es irgend eine Lüge, von der er ganz bestimmt voraussagen könnte, daß sie es ihm retten werde?“
„Da fragst du mich zu viel, Effendi. Es ist ja bei jeder Lüge möglich, daß sie sofort erkannt und durchschaut wird.“
„Sehr richtig! Und wird sie durchschaut, so verschlimmert sie nur die Lage. Sie verzehnfacht das Mißtrauen und verstärkt die Gefahr, die man durch sie vermeiden will. Das ist aber noch das Geringste, was ich gegen sie zu sagen habe. Die Lüge, auch die Notlüge, ist eine Mörderin. Sie tötet die Selbstachtung. Und geradezu fürchterlich ist es, daß der Lügner gar nicht bemerkt, daß er diesen Selbstmord fortgesetzt an sich begeht. Grad er setzt gern und stets den höchsten Trumpf auf seine Ehre. In
Weitere Kostenlose Bücher