22 - Im Reiche des silbernen Löwen III
Wirklichkeit aber fühlt er gar wohl, daß sie ihm vollständig fehlt. Das macht ihn ungewiß und mißtrauisch gegen andere. Der Glaube an sie geht ihm verloren. Er verliert das Vertrauen zur Menschheit durch seine eigene Schuld, durch seine eigene Lügenhaftigkeit. Er hat das moralische Band, welches ihn mit allen vereinigte, freventlich zerrissen und muß an jedem Augenblick gegenwärtig sein, als rechtsloser Mensch, als Ausgestoßener behandelt zu werden.“
„Wie du das sagst, o Effendi, klingt es schlimm!“
„Jawohl! Aber auch das ist noch das Schlimmste nicht. Das Allerschlimmste an der Lüge sind die fliegenden Samen.“
„Fliegende Samen? – Wie meinst du das?“
„Es gibt Pflanzen, welche, wenn sie ausgeblüht haben, in ihren Kronen hunderte von kleinen, leichten Körnchen erzeugen, die alle mit einem weißen, federfeinen Schirmchen versehen sind. Ein jeder Lufthauch, der so ein Schirmchen faßt, nimmt den daran befindlichen Samen mit sich fort, und da, wo er ihn fallen läßt, entsteht eine neue Pflanze. So ein Gewächs kann durch diese Art der Verbreitung in kurzer Zeit für eine ganze Gegend verderblich werden. Das Unkraut verbreitet sich so, daß es nur mit der größten Anstrengung wieder auszurotten ist.“
„Und so tut es auch die Lüge?“
„Ja. Sie ist grad dann am gefährlichsten, wenn sie nicht entdeckt wird, wenn der Lügner seinen Zweck erreicht hat, wenn die sogenannte Notlüge die Not scheinbar beseitigt hat. Da gedeiht die Lüge in größter Heimlichkeit. Niemand sieht sie stehen. Niemand vernichtet sie. Nur der Lügner kennt sie. Er pflegt und hegt sie. Er sorgt dafür, daß kein Mensch sie bemerkt. Er sieht darauf und freut sich darüber, daß alle ihre Folgen und alle ihre Samen sich entwickeln. Sind diese Folgen reif, so bleiben sie nicht an Ort und Stelle; sie werden fortgetragen. Oft nicht weit, oft aber auch in großer Ferne. Dort lassen sie sich nieder und beginnen zu wachsen und sich zu vermehren. Die Lüge treibt tausend neue Blüten, die alle, alle wieder Lügen sind, deren Samen dann weitergetragen werden, hierhin und dorthin, in Masse aber besonders auch wieder dorthin zurück, wo die erste stand und so gute Pflege fand. Der Same dieser ersten fiel auch in die Nähe. Er fand den besten Boden. Er wuchs und wuchs und brachte immer neue Pflanzen. Der Lügner hat, nachdem ihm die erste Lüge gelang, nicht wieder nachzusehen. Jetzt kommt er hin und sieht zu seinem Schreck, daß seine Unwahrheit zum Unkraut geworden ist, welches alles Gute überwuchert. Die Nachbarn werden laut, die ferner Wohnenden auch. Man fragt, man forscht, und man entdeckt die Herkunft dieses Übels. Da ist es nun um ihn für alle Zeit geschehen. Verstehst du mich, Hanneh?“
„Beinahe“, antwortete sie.
„Ja, das Unkraut kann man freilich stehen sehen, die Lüge aber nicht, weil sie keinen Körper hat. Aber ihr Gift verpestet nicht bloß die Gedanken, sondern auch die Worte und Taten, und diesen ist es deutlich anzumerken, daß sie bei Lug und Trug entstanden sind. Man nennt die Lüge einen häßlichen Schandfleck an dem Menschen; aber sie ist noch mehr: Sie ist die Mutter aller Übel, die es gibt. Es gibt wohl keine Missetat, welche nicht durch die Lüge vorbereitet oder wenigstens begleitet wird. Hanneh, meine Freundin, ich sage dir, daß Kara recht gehandelt hat, als er die Wahrheit sagte. Oder glaubst du, daß man einer Lüge geglaubt hätte?“
„Wahrscheinlich nicht.“
„Ganz gewiß nicht! Er kam aus der Gegend der Dschamikun. Wäre er so feig gewesen, sie zu verleugnen, so wäre das Mißtrauen der Perser für ihn schädlicher geworden als die Wahrheit, die er ihnen so offen und ehrlich sagte. Sie nannten ihn dieses Mutes wegen ‚toll‘. Sie hielten ihn für einen unbedachtsamen, leichtsinnigen Menschen, mit dem sie leichtes Spiel zu haben glaubten. Nur darum unterließen sie jene Vorsichtsmaßregeln, welche sie im anderen Fall ganz gewiß getroffen hätten. Der Scheik der Kalhuran hat es vor allen Dingen der Wahrheitsliebe Karas zu verdanken, daß er gerettet worden ist. Eine Notlüge aber hätte diese Rettung höchstwahrscheinlich ganz unmöglich gemacht. Oder meinst du, hieran noch zweifeln zu müssen, wie du vorhin tatest?“
„Nein. Du hast mir ja bewiesen, daß ich unrecht hatte. O Sihdi, ich bin keine Lügnerin; gewiß bin ich das nicht; aber so häßlich und so schädlich, wie du es jetzt beschrieben hast, habe ich mir die Lüge doch nie gedacht. Ich habe mich stets vor
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