22 - Im Reiche des silbernen Löwen III
trank, war munter wie ein vollständig gesunder Mann und sagte, als er sah, daß ich ihn beobachtete:
„Sie ist längst wieder fort, die mich heute nacht besuchte. So alte Klage- und Jammerweiber halten es bei einem rüstigen Menschen niemals lange aus. Soeben steigt der Scheik auf das Pferd. Komm, Sihdi, laß uns dasselbe tun!“
Er schwang sich leicht und frei in den Sattel, so wie ich gewohnt war, es von ihm zu sehen. Ich wurde vollständig irr an dem Krankheitsbild, welches mir in Beziehung auf ihn bisher drohend vorgeschwebt hatte, und fragte mich, ob es sich vielleicht doch nur um eine morbillöse Infektion handle. Aber dann hätte unbedingt ein Katarrh der Luftwege und der Augenbindehaut, begleitet von einem reichlichen Tränenguß, vorhanden sein müssen, und das war keineswegs der Fall. Mochte nun aber vorliegen, was da wollte, ich mußte die Entwicklung ruhig abwarten. Halef kämpfte jedenfalls mit größerer Anstrengung, als er mir eingestehen wollte, gegen dieses Übel, und ich nahm mir vor, ihm diesen Kampf nicht törichterweise zu erschweren, daß ich ihn die Größe meiner Besorgnis sehen ließ.
Unser Nachtrab hatte uns gegen Mitternacht eingeholt. Er blieb noch hier, um auszuruhen und uns dann zu folgen. Wir aber ritten weiter.
Es ist nicht mein Zweck, die Gegenden, durch die wir kamen, zu beschreiben. Topographische Ausführlichkeiten pflegen wohl für den Fachmann interessant, für andere aber langweilig zu sein. Es genügt vollständig, nur das zu erwähnen, was mit dem Zweck unseres Rittes in Zusammenhang stand.
Es war noch am Vormittage, als wir über eine Tiefung kamen, auf welche zwei breitere Täler und mehrere schmale Schluchten mündeten. Es schien, als ob es hier einst einen tiefen See mit zahlreichen Wasserzuflüssen gegeben habe. Der Boden bestand aus einem feinen, hellen, fast mehligen Sand, in welchem jede vorhandene Spur mit ungemeiner Deutlichkeit zu sehen war. Man konnte sogar den Weg, den eine Maus oder ein kleiner, hüpfender Vogel genommen hatte, ganz genau erkennen. Die Stelle war rundum von Höhen umgeben, welche die Winde abhielten; es gab also hier keine Luftbewegungen, durch welche die Spuren ausgewischt und verweht wurden.
Daher auch die große Deutlichkeit einer Fährte, welche aus einer rechts von uns liegenden Schlucht herauskam, um links in einer anderen zu verschwinden. Sie führte also quer über unseren Weg. Nafar Ben Schuri, welcher, wie bisher stets, unserem Zug voranritt, sah sie zuerst. Er hielt an, um sie zu betrachten. Seine Leute gruppierten sich sogleich in der Weise um ihn, daß die Fährte unter den Hufen ihrer Pferde verschwand. Als wir nun hinkamen, hörten wir die Worte des Scheiks:
„In dieser einsamen Gegend sollte man keine Spur vermuten. Ich weiß genau, daß es weder nach rechts noch nach links hin Menschen gibt. Wer mag das wohl gewesen sein, der hier vorüber gekommen ist?“
„Du fragst und scheinst es doch aber gar nicht wissen zu wollen“, antwortete Halef.
„Wieso?“ fragte Nafar verwundert.
„Wenn ich dir einen Brief schreibe, den ich auf einen schwarzen Schiefer geschrieben habe, was tust du da?“
„Ich lese ihn.“
„Nein! Ich sehe ja, daß du das nicht tust! Du löscht ihn aus und fragst dich dann verwundert, was auf dem Schiefer wohl gestanden habe.“
„Traust du mir wirklich keine größere Klugheit zu?“
„Wie kannst du mir eine Frage vorlegen, durch deren Beantwortung ich dich beleidigen würde! Schau diesen Sand! Er ist die Schiefertafel. Der, welcher hier geritten ist, hat eine Schrift geschrieben, welche zu lesen ist, nämlich seine Spur. Anstatt sie aber zu lesen, laßt ihr eure Pferde so über die Fährte trampeln, daß sie nun fast nicht mehr zu sehen ist. Nun sei so gut und beantworte dir deine Frage selbst!“
Halef hatte vollständig recht. Wir beide ritten zur Seite, stiegen da, wo die Spur noch nicht ausgetreten war, von den Pferden und folgten ihr, um die Eindrücke zu betrachten, so weit, bis ich genug gesehen zu haben glaubte. Der Scheik war uns langsam gefolgt. Als ich mich jetzt wieder umwandte, fragte er:
„Nun, was habt ihr gesehen? Der Scheik der Haddedihn wird uns jetzt zeigen, wie gut er lesen kann!“
Das klang beinahe ironisch. Halef war sofort mit der richtigen Antwort da:
„Wir haben nichts, gar nichts gefunden, o Scheik der Dinarun. Darum bitten wir dich, dein Pferd zu verlassen, um zu versuchen, ob du diese Schriftzeile besser lesen kannst als wir!“
„Was liegt daran, zu
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