223 - Gaston, Diana - Die mysteriöse Miss M
zutraf, auch wenn Ned zu anständig war, als dass er es ihr ins Gesicht gesagt hätte.
Sie fragte sich, ob Ned Devlins Geliebte auf jene sinnliche Weise ansehen würde, die sie oft in der Oper bemerkt hatte, wenn junge Dandys die festlich gekleideten Frauen im Parkett beobachteten. Der Gedanke, Ned könnte so sein wie diese Männer, war für sie unerträglich, genauso wie die Vorstellung, er habe vielleicht selbst eine Geliebte. Anmerken ließ er sich das zwar nicht, doch woher sollte sie wissen, ob es so war oder nicht?
Wie jedes Mal, wenn sie über solche Dinge nachdachte, brannten ihr auch jetzt wieder die Augen, und ihre Kehle schnürte sich zu. Ned würde es nicht gefallen, wenn sie auf diese Art dreinblickte, als könnte sie jeden Moment in Tränen ausbrechen. Es gelang ihr, sich in den Griff zu bekommen und eine gelassene Miene aufzusetzen.
„Mein Bruder ist spät dran.“ Er stand am Kamin, auf dessen Sims die Uhr eben die halbe Stunde schlug.
Ned war stets pünktlich, geradezu überpünktlich, sodass er manchmal Serena in Verlegenheit brachte, wenn er sie zu einem gesellschaftlichen Ereignis begleitete. Nie konnte sie ihm klarmachen, dass die auf einer Einladung angegebene Uhrzeit nicht die war, zu der man erwartet wurde.
Sie wollte Devlins Verspätung entschuldigen, entschied sich dann aber anders. Aus einem unerklärlichen Grund reagierte Ned seit einiger Zeit gereizt, sobald sie seinen Bruder zu verteidigen versuchte.
Dass Ned sich doch dazu entschlossen hatte, Devlin die ihm zustehende Zuwendung auszuzahlen, freute Serena. Andererseits wunderte es sie, warum er jetzt auf einmal bereit war, nach einer Frau Ausschau zu halten, wenn er doch eine Beziehung zu dieser rätselhaften Miss England unterhielt. Ihr fiel es schwer, sich mit der Vorstellung anzufreunden, dass die hübsche junge Frau in Devlins Begleitung in Wahrheit der Halbwelt angehörte und sein Bett teilte.
„Lord Devlin und Miss England“, verkündete Barclay, der eben ins Zimmer gekommen war.
Mit aufgeregt klopfendem Herzen erhob sich Serena.
Devlin trat ein. In seinem Abendanzug sah er schmuck aus, und ihr wurde bewusst, wie lange sie ihn schon nicht mehr derart gekleidet gesehen hatte. Die schlichte Jacke aus feinem schwarzem Stoff passte gut zu seinem dunklen Haar, und sie schmiegte sich makellos um seine breiten Soldatenschultern. Trotz seiner förmlichen Aufmachung gelang es ihm, seine typische Lässigkeit zu wahren.
Serenas Blick wanderte weiter zu der jungen Frau hinter ihm.
Sie sah blendend aus. Ihr Haar war so dunkel wie Devlins, sie trug es hochgesteckt, sodass die Naturlocken ihr Gesicht umrahmten und ihr in den Nacken fielen. Um ihren Hals lag eine elegante Perlenkette, darauf abgestimmt waren die Perlenohrringe – keineswegs der Schmuck, den eine Geliebte bevorzugte, sondern eher die Art, wie Serena sie an ihrem zwölften Geburtstag als Geschenk erhalten hatte.
Miss Englands goldfarbenes Seidenkleid war klassisch geschnitten und frei von Schnörkel, ausgenommen die goldfarbene Perlenstickerei an Halsausschnitt und Saum. Serena hatte bei den Debütantinnen im Almack’s tiefere Ausschnitte gesehen, auch wenn die Figur dieser Frau den Blick eines Mannes zweifellos auf jene Partie ihres Körpers zog. Schnell sah Serena zu Ned, um seine Reaktion auf sie wahrzunehmen, doch er zog nur eine Augenbraue hoch.
„Ned, Serena, schön, euch zu sehen“, erklärte Devlin gut gelaunt. „Darf ich euch Miss Madeleine England vorstellen? Miss England – der Marquess und die Marchioness of Heronvale.“
Die junge Frau machte vor beiden einen einwandfreien Knicks, dann stand sie erhaben da und sah ihnen in die Augen. „Ich freue mich, Sie wiederzusehen.“ Ihre Stimme hatte jenen kultivierten Tonfall, den man von jemandem mit ehrbarer Erziehung erwarten würde.
„Schön, dass Sie kommen konnten“, entgegnete Ned steif und wandte sich Devlin zu. „Geht es dir gut, Bruder?“
Devlin verdrehte die Augen. „Mein Gott, Ned, ich bin dem Tod längst von der Klinge gesprungen, wie du weißt.“
Fasziniert beobachtete Serena, wie überrascht Miss England auf diese Bemerkung reagierte. Auch Devlin bemerkte ihr Erstaunen, was er mit einem Lächeln überspielte.
Sie standen sich immer noch gegenüber, als Barclay ihnen die Aperitifs brachte.
„Barclay“, sagte Serena, der es peinlich war, dass sie so völlig ihre Manieren vergessen hatte, „Miss England und ich werden
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