223 oder das Faustpfand - ein Kriminalfall
zwar die 3 Koffer seiner Familie vor, nicht aber seine Frau und die Kinder. Vor 2 Tagen seien sie mit der Bahn angekommen, hätten das Kabinett bezogen, das Gepäck abgestellt und seien zu Mittag selbdritt in den Ort gegangen, erzählen ihm die beiden Alten. Seither habe man nichts mehr von ihnen gehört.
Klemens Markus meldet die Abgängigkeit seiner Familie am Gendarmerieposten Persenbeug. Er dringt sogar bis zum Kommandanten vor, erntet aber von Engelbert Duchkowitsch nur den einen oder anderen matten Scherz über seinen Akzent und oberlehrerhafte Aufklärung darüber, dass allein auf der Straße Krems–Grein jeden Tag hunderte und aberhunderte Flüchtlinge, von den Militärkolonnen ganz zu schweigen, unterwegs seien, unter denen eine weitere Flüchtlingsfrau mit ein paar Bälgern nicht auffalle und unmöglich zu finden sei. Er, Markus, solle sich keine Sorgen machen, wahrscheinlich sei seine Familie schon längst in Enns oder in Linz bei den Amerikanern.
»Warum hätten sie ihre Koffer zurückgelassen?«, fragt er verzweifelt.
»Weil sie ihnen zu schwer waren«, antwortet der Kommandant achselzuckend und gleichgültig.
»Darin war ihr gesamtes Hab und Gut. Niemand lässt das Einzige zurück, das ihm in Zeiten wie diesen das Überleben sichert!«
Ob er tatsächlich ausgerechnet auf einer Gendarmerie-Dienststelle Zweifel am Endsieg äußern wolle, fragt der Postenkommandant scharf.
Klemens Markus ist sich der Gefährlichkeit dieser Frage sofort bewusst.
»Nein, natürlich nicht.«
Er ist sich sicher, dass seine Familie ermordet worden ist, vielleicht nur wegen der guten Kleidung, Vorkriegsware aus Wien, die sie am Körper getragen haben. Grußlos verlässt er den Gendarmerieposten.
Im Koffer seiner Frau findet er die Kamera, eine Zeiss Ikon, Filme und einen Behälter mit Entwicklerlösung. Lieber hätte er eine Pistole gefunden, um seinem Leben selbst ein Ende zu setzen.
Die meisten der ungarischen Juden, die Revierinspektor Franz Winkler an diesem 25. April 1945 auf der Straße Krems–Grein an der Gemeindegrenze zwischen Gottsdorf und Persenbeug übernimmt, sind in einem weit schlechteren Zustand, als er befürchtet hat, jämmerliche, zaundürre, humpelnde Gestalten, eingehüllt in Lumpen und mit Bündeln voll weiterer Lumpen auf dem Rücken. 4 Personen, sehr alte Frauen, werden von anderen, wahrscheinlich ihren Kindern und Enkeln, auf behelfsmäßig gebastelten Tragen mitgeschleppt, wobei die Träger nicht viel besser aussehen als die Getragenen. Auch eine Menge Kinder, die sich stumpf und langsam wie alte Menschen bewegen, sind dabei, oder sind es Greise, die vor Unterernährung wieder wie Kinder aussehen? Am späten Nachmittag hat er insgesamt schon 125 Köpfe gezählt. Auch seine 4 Persenbeuger Gendarmen, die Duchkowitsch am Morgen zur Judenjagd Richtung Osten ausgeschickt hat, waren erfolgreich; in Gottsdorf haben sie einen alten ungarischen Juden in einem Bauernhaus ausfindig gemacht. Der Mann sieht zum Sterben schlecht aus und kann fast nicht mehr gehen. Es ist József Bihari am Ende seiner letzten Kräfte. 2 von den Gendarmen habe ihn an den Armen gepackt und schleifen ihn über die Landstraße.
Das gute Dutzend Gendarmen aus den Rayonen östlich von Persenbeug ist klammheimlich froh, ihre Gefangenen übergeben zu können. In Ybbs, meldet dem Revierinspektor einer, sei ihm eine ältere Jüdin mit ihren 5 halbwüchsigen Bälgern entwischt, eine mutmaßliche Kohn, aus einem Lager in der Hackengasse in Wien.
»Manche Kollegen sind offenbar nicht einmal fähig, ein paar Kinder zu hüten«, denkt Winkler, sagt aber nach kurzem Nachdenken: »Kein Grund zur Sorge, irgendwer wird sie schon wieder einfangen.« Er unterschreibt den Kollegen jede Übernahmebestätigung, die sie ihm hinhalten, ohne sie langsam und genau durchzulesen, wie es sonst seine Art ist.
Der Revierinspektor entschließt sich, die Internierten von seinen Männern in 4 Gruppen von rund 30 Personen nicht auf dem schmalen Donauuferweg ins Lager, sondern mitten durch den Ort treiben zu lassen, vorbei am Gasthaus
Zum Goldenen Ochsen
am östlichen Ortsrand, die Hauptstraße hinunter, vorbei am Sigl- und am Feldmüller-Haus, auf den kleinen, fast quadratischen Rathausplatz mit der dem heiligen Florian geweihten, gotischen Pfarrkirche, dem Rathaus mit den kunstvoll-bauchigen, barocken Fenstergittern und der riesigen Marktlinde zu, vorbei am Gericht und am Gendarmerieposten, dann die Schloss-Straße Richtung Westen weiter, vorbei am
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