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223 oder das Faustpfand - ein Kriminalfall

223 oder das Faustpfand - ein Kriminalfall

Titel: 223 oder das Faustpfand - ein Kriminalfall Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Residenz
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zum Essen vorrätig. Er wagt es auch nicht, in die Küche seiner bettlägerigen Wirtsleute zu schleichen, um dort ein paar Erdäpfel zu nehmen. Stattdessen holt er in seinem Zimmer aus einem der Koffer einen Haufen Bettwäsche, kaum gebrauchte, akkurat gebügelte Vorkriegsware, und steckt auch noch ein Bündel Geldscheine in die Hosentasche.
    Als er zu den beiden vor seiner Schwelle zurückgekehrt ist, hält er der Bettlerin den Packen blütenweiße Bettwäsche hin. Obenauf hat er das Papiergeld gelegt. Vor ein paar Jahren hätte man dafür noch ein Fahrrad bekommen oder einen Kamelhaarmantel, aber mittlerweile ist das Geld wegen der hohen Kriegsinflation nicht mehr allzu viel wert. Großdeutschland ist nicht nur militärisch bankrott.
    »Ich habe leider nichts zum Essen im Haus, aber vielleicht können Sie die Wäsche für ein paar Kartoffeln eintauschen. Es sind gute Sachen, wirklich gute Qualität. Und für Reichsmark bekommt man hier am Land immer noch etwas, wenn auch nicht allzu viel«, sprudelt es aus Klemens Markus heraus, und er schämt sich das erste Mal seit vielen Jahren nicht mehr für seinen Akzent.
    Während die Frau den Packen entgegennimmt und in ihrer Aufregung unentwegt ungarische Dankesformeln murmelt, greift das Kind, dessen Tränen mit einem Mal versiegt sind, unvermutet nach Klemens Markus’ Hand, offenbar um sie zu küssen. Peinlich berührt wehrt er ab.
    Es ist nicht der fahrige Strahl der Militärtaschenlampe, der Regina Varga am 2. Mai 1945 um zirka 22 Uhr 30 aus dem Schlaf schrecken und von ihrem muffigen Strohsack hochfahren lässt, sondern Gebrüll, die Art von deutschem Befehlsgebrüll, die sie schon von mehr als einem Lager und nicht zuletzt von dem Evakuierungsmarsch von Wien nach Persenbeug zur Genüge kennt, von diesem Horrormarsch, auf dem sie Gras und Blätter essen und aus Straßenpfützen trinken musste, um nicht ihre ganze Kraft zu verlieren. Auch jetzt, das ahnt sie mehr, als sie es weiß, geht es vielleicht ums Überleben. Keinen Meter von ihren Zehenspitzen entfernt, die ein fadenscheiniges, x-mal gestopftes Leintuch bedeckt, steht ein volladjustierter Waffen-SS-Mann mit einer Taschenlampe in der rechten und einer Pistole in der linken Hand. »Raus! Alle Männer raus! Alle arbeitsfähigen Männer raus! Gemma, gemma!«, schreit der Uniformierte und tritt mit seinem rechten Knobelbecher Ida Székely, deren Strohsack vor dem von Regina Varga am Boden liegt, in den Bauch. Immer und immer wieder. Vielleicht, weil er sie im Dunkeln für einen Mann hält, oder einfach auch nur, weil sie Jüdin ist und das Pech hat, ihm von all den zirka 80 Menschen in der mittleren Baracke nahe genug zu sein, was ihm als rassebewusstem Arier widerwärtig sein muss.
    »Alle arbeitsfähigen Männer antreten! Vor der Baracke antreten! Na, wird’s bald, oder braucht ihr dreckigen Schweinejuden eine Extraeinladung?«
    Über die Schulter hat der schreiende Uniformierte noch einen Karabiner gehängt, und obwohl der ganze Mann bestenfalls mittelgroß ist und ein bartloses Milchgesicht hat, könnte Satan selbst, denkt Regina Varga, wohl nicht schrecklicher anzusehen sein. Unwillkürlich rollt sie sich auf ihrem Strohsack zusammen, in dem der Nachtschweiß von dutzenden Zwangsarbeitern der letzten 2, 3 Jahre gefangen ist, um so den drohenden Tritten weniger Ziel zu bieten. Zitternd vor Angst beginnt sie, sich unhörbar die Namen der sibirischen Flüsse vorzusagen, die sie sich einst in der Schule besonders gut gemerkt hat, zuerst von Westen nach Osten, dann von Osten nach Westen. Das ist ihr Mantra gegen den Schrecken. Die Religiösen, denkt sie, haben es leichter, die haben bessere, wirksamere Formeln, ihre Stoßgebete und heiligen Sprüche, die sie ebenfalls auswendig wissen.
    Insgesamt sind es 4 bis an die Zähne bewaffnete SS-Männer, die Regina Vargas Baracke gestürmt haben, jeden Winkel mit ihren Taschenlampen ausleuchten und sie mit ihren lauthals brüllenden Wolfsstimmen in die Realität eines Alptraums stürzen.
    »Los, raus, ihr stinkenden Itzigs! Alle arbeitsfähigen Männer raus! Vor der Baracke antreten! Auf zum Arbeitseinsatz!«
    Jetzt steigen 2 von ihnen fluchend die Treppe in den Stock der Baracke hinauf, wo die Männer nächtigen. Schreie sind von oben zu hören, ungarische Wortfetzen und immer wieder das Gebrüll der SS-ler. Durch die Deckenbalken rieselt etwas Staub und Sand auf die Frauen und Kinder im Erdgeschoß. Dann wird Albert Klein, Buchhalter und Notar der Kultusgemeinde von

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