223 oder das Faustpfand - ein Kriminalfall
Haus
Zu den drei Hacken
, dem uralten Schiffsmeisterhaus und dem Schlosspark, damit die Persenbeuger sehen können, dass sie sich vor diesen Jammergestalten, von denen die meisten so dünn wie ein Bleistift sind, nicht zu fürchten brauchen. Fürchten muss man sich, denkt er, nur vor den Russen, die da kommen werden, nur zu bald, und diese Juden sind vielleicht das Alibi für ihn und für ganz Persenbeug, wenn man sie jetzt nur einigermaßen gut behandelt. Revierinspektor Franz Winkler ist gewillt, genau das zu tun. Er ist kein Philanthrop, kein besonderer Menschenfreund, sondern Gendarm, fühlt wahrscheinlich wenig bis gar kein Mitleid mit den Juden, aber die Sache mit den Gutpunkten hat er verstanden.
Nirgendwo in den Akten gibt es einen Hinweis darauf, wen die Gendarmen zum Lagerleiter bestimmt haben. Es wird wohl ein älterer Mann gewesen sein, der noch aufrecht stehen und gehen konnte und halbwegs gut Deutsch sprach. Auf jeden Fall sehen wir ihn jetzt, wie er in einer der Baracken hinter einem Tischchen hockt mit einer kleinen Waage und einer Liste und einem Löffel vor sich. Links neben ihm auf dem Boden stehen ein paar Einmachgläser, ein Korb, ein größerer Sack – die Verpflegung für über 200 Menschen. Vor ihm stehen die Haushaltsvorstände, ältere Männer wie er und Frauen, Schlange, um ebendiese Verpflegung zu fassen, wie es im militärverseuchten Jargon der Zeit heißt. Überaus sorgfältig, ja penibel misst der Lagerleiter jedem seine Ration und die Ration für seine Familie zu. Am 30. April 1945 sind es pro Person gerade einmal 5 Dekagramm Marmelade.
Natürlich hat er sich nicht selbst auf die Liste geschrieben, auf der er sich die Namen aller Familienoberhäupter im Lager notiert und die er eben noch fleißig abgehakt hat. Die Rationen für ihn und seine Angehörigen verstehen sich von selbst, da ist keine Buchhaltung nötig. Ob er und seine Familie die 5 Dekagramm Marmelade erhalten haben oder nicht, spüren sie im Magen, wenn auch nur schwach. Die Position des Lagerleiters, des Herrn über die aufzuteilenden, zu fassenden Lebensmittel – die nur zum Hohn so heißen, aber zum Leben zu wenig sind und gerade einmal für ein langsames, quälendes Sterben reichen – würde gut zu Moritz »Mór« Weinberger passen, dem als ehemaligem Direktor der jüdischen Volksschule in Debrecen die Ausübung von Amtsautorität wohl nichts Fremdes ist. Der Sechzigjährige hat seit der Deportation aus Ungarn mit seiner Frau Ilona und seiner Tochter Hanna Zwangsarbeiterlager in der Lobau und in der Hackengasse 11 im 15. Wiener Gemeindebezirk überlebt. In Frage kommen aber auch Janos Frank, ein Fleischhauer aus Szolnok, dem man Gerechtigkeit bei der Verteilung der Lebensmittel zutrauen kann, da er keine Verwandten im Lager hat, und vielleicht Max »Miksa« Rosenberg, ebenfalls aus Szolnok. Es könnte aber auch Pál Feldmesser gewesen sein, Apotheker aus Debrecen, der schon während seiner Internierung auf Gut Antonshof bei Schwechat »jüdischer Polizist« von deutschen Gnaden und damit Lagerführer gewesen ist.
An diesem 30. April 1945 hat der Lagerleiter auch noch Brot zu verteilen, 16 Dekagramm und 2 Drittel eines Dekagramms pro Person. Überschlagsmäßig rechnet er sich aus, dass dann 6 Insassen für 2 Tage 2 Kilogramm bekommen oder 3 Insassen für 2 Tage ein Kilogramm. Mit der Kommastelle wird auch beim Käse zu rechnen sein: 7,5 Dekagramm pro Person. An diesem 30. April wird die Käseration für 5 Tage gefasst, auch die Zuckerration, über die nichts überliefert ist, aber mehr als ein paar Körner pro Nase werden es wohl nicht gewesen sein. In Aussicht steht an diesem Tag auch eine Mehllieferung von 10 Kilogramm. 10 Kilo für 217 Menschen, die Brotration für die kommenden Tage, lange Tage mit kurzen Mahlzeiten.
Am 1. Mai 1945 kommen kaum Lebensmittel zur Verteilung. Moritz Weinberger kann lediglich 4,5 Dekagramm Zucker pro Person ausgeben. Das Mehl ist noch nicht im Lager angekommen. Ein paar Kinder, Frauen und Mädchen, die sich noch auf den Beinen halten können, schleppen sich hinauf nach Hofamt Priel, in den Ort Persenbeug, klopfen an die Hausund Hoftüren und betteln. Die beiden Gendarmen, die das Lager inzwischen bewachen, machen sich, so gut es geht, unsichtbar, halten die Jammergestalten nicht auf. Der Volkssturm lässt sich sowieso schon seit 2 oder 3 Tagen nicht mehr blicken und hat seine Beteiligung an der Bewachung des Lagers wohl eingestellt. Nachts ist das Lager völlig unbewacht.
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