223 oder das Faustpfand - ein Kriminalfall
Gendarmeriemeister Duchkowitsch lässt seine Leute lieber schlafen, als auf Juden aufzupassen, von denen die meisten noch immer so ausgemergelt und erschöpft sind, dass an eine erfolgreiche Flucht sowieso nicht zu denken ist. Nur in den Umsiedlerbaracken, ein paar hundert Meter weiter flussabwärts, macht sich Ärger breit – all die tausend Jahre des Dritten Reiches durfte man sich den Juden unendlich überlegen fühlen, nun hat man wie sie nicht mehr als ein paar Bretterbuden als Obdach, und die Zukunft ist mehr als ungewiss.
Am 2. Mai 1945 verteilt Moritz Weinberger Margarine: 2,5 Dekagramm pro Kopf. Dafür drohen die ohnehin schon lächerlichen Rationen noch kleiner zu werden: 14 ungarisch-jüdische Arbeitsdienstler, eskortiert von Persenbeuger Gendarmen, wanken auf zerschundenen Füßen ins Lager. Beim Stellungsbau am Südostwall hat man ihre jungen Körper ein für allemal ruiniert, den Marsch in das KZ Mauthausen haben sie nicht mehr geschafft. Soweit sie vor Erschöpfung überhaupt noch einigermaßen klar denken können, wundern sie sich nur, dass sie nicht wie so viele vor ihnen auf der Flucht erschossen worden sind.
Am späten Vormittag des 1. Mai 1945 steht Klemens Markus auf der Türschwelle seines Persenbeuger Quartiers steif und starr vor einer erschreckend mageren, in fadenscheinige Lumpen gehüllten Frau, die vielleicht 30, 35 Jahre alt ist, aber aussieht wie mindestens siebzig. Ihr Haar ist kurz geschoren, dünn, stumpf und völlig glanzlos, die rechte Gesichtshälfte stellenweise von rötlichem Schorf bedeckt, wobei nicht zu sagen ist, ob die Krätze von den unvorstellbaren hygienischen Verhältnissen im äußerst schlecht ausgestatteten Judenlager oder von einer Krankheit des ausgezehrten Hungerkörpers herrührt. Neben ihr steht völlig apathisch ein 8- oder 9-jähriges Kind, das so spindeldürr ist, dass man unmöglich sagen kann, ob es sich um einen Buben oder ein Mädchen handelt. Mit starkem ungarischem Akzent erzählt die elende Bettlerin dem Markus vom Auffanglager in den Baracken der Rhein-Main-Donau AG westlich des Schlosses Persenbeug und davon, dass sie aus Floridsdorf zu Fuß hierher getrieben worden, aber eigentlich ungarischer Herkunft ist. Die gelben Judensterne auf der Kleidung der beiden jämmerlichen Gestalten nimmt Klemens Markus gar nicht richtig wahr, er ist wie versteinert und hat in Gedanken nur mehr seine Frau und eines seiner Kinder vor Augen, die nun in einer erschreckend realen Vision vor der Schwelle des Hauses seiner Wirtsleute stehen, weil die beiden alten Leutchen schon seit gestern ein bisschen fiebrig und grippig das Bett hüten und er in ihrer Vertretung die Haustür auf das leise, aber beharrliche Klopfen hin entsperrt und geöffnet hat. Diese schreckliche und zugleich wunderbare Erscheinung lässt ihn in eine wort- und bewegungslose Starre fallen, die während der gesamten Erzählung der Frau anhält. Die Bettlerin und ihr Kind wollen sich schon zum Gehen wenden, als Klemens Markus seine Vision, die er so gerne festgehalten hätte, aus den feuchten Augen verliert und mit einem Mal bemerkt, dass die Hände der beiden Jammergestalten leer sind, obwohl sie auf dem Weg vom Lager bis zu seiner Haustür doch schon knapp ein Drittel von Persenbeug durchquert, sicherlich an vielen Türen und Toren angeklopft und wohl auch im Schloss, in dem Erzherzog Dr. Hubert Salvator von Habsburg mit den Seinen und mit einer Vielzahl von Dienern, Personal und Angestellten residiert, um Essen, um irgendwelche Lebensmittel gefragt haben. Vielleicht liegt es an dem roten Schorf im Gesicht der Frau, denkt er, dass sie nirgendwo etwas bekommen hat, vielleicht aber auch am Judenstern.
»Warten Sie!«, ruft er. »Warten Sie noch einen Moment! Ich habe etwas für Sie!«
Das kann, denkt die Zwangsarbeiterin apathisch, ein Fußtritt, ein Stockschlag, eine Beschimpfung sein oder auch ein Haufen Tier- oder Menschenkot, fein säuberlich eingepackt in mehrere Lagen Zeitungspapier. Sie hat, von Ungarn bis hierher, alles schon erlebt. Ihr Kind lehnt sich erschöpft an den Türstock und beginnt plötzlich leise zu weinen. Das ungarische Weinen ist vielleicht das traurigste von der Welt, denkt die Mutter. Selbst wenn die Deutschen je weinen sollten, würden sie trotzig und ungerührt weinen, voller Wut und Hass und Selbstmitleid.
Klemens Markus hat sich auf der Schwelle umgedreht und ist in seine Kammer geeilt. Weil gestern niemand zum Fotografieren gekommen ist, hat er leider rein gar nichts
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