223 oder das Faustpfand - ein Kriminalfall
älteren Menschen wohl nicht leicht zu verkraften:
Heute, am 30. Juni, hat man uns desinfiziert. Die Nacht haben wir unter freiem Himmel verbracht. Ein furchtbarer Platz. Das Essen ist ungenießbar. Heute Nacht (1. Juli) habe ich unter einem Dach geschlafen. Nachmittag um fünf Uhr wurden wir einwaggoniert
. Der kränkliche Mann landet als künftiger Zwangsarbeiter in einer Schule in der Konstanziagasse 24 im 22. Wiener Gemeindebezirk.
Das Essen ist furchtbar, bin ganz abgemagert, meine faciale Lähmung will nicht besser werden. Ich habe keine Medikamente. Mein Bein ist ganz bamstig. Seit einer Woche spüre ich nichts mehr. Ich weiß nicht, was damit sein wird, es beunruhigt mich sehr
, schreibt József Bihari am 5. Juli 1944 in seinen Kalender. Weit mehr noch als die deprimierenden Lebensumstände und die gesundheitlichen Probleme beunruhigt ihn die Trennung von seiner Gattin und vor allem die Ungewissheit über ihr Schicksal:
Leider habe ich von meiner Rózsi noch immer nichts gehört. Es tut mir furchtbar leid, dass wir nicht zusammen sein können. Was ist mit der Armen? Oh, wenn ich nur etwas über sie erfahren könnte
. Alles in allem ist József Biharis Tagebuch vor allem ein Dokument der Sehnsucht nach seiner Frau, ein Dokument der Liebe und Treue. Mehr als die Hälfte der Eintragungen in seinem Taschenkalender beschwören die gemeinsame Vergangenheit mit Rózsi in Szolnok und beklagen ihre Abwesenheit.
Nur wenn ich von meiner Rózsi etwas wüsste, könnte ich alles besser ertragen
, notiert József Bihari am 3. August 1944. In seinem Schmerz um die verlorene Gattin meldet sich der alte Mann, dessen körperlicher Zustand von Tag zu Tag schlechter wird, freiwillig zur Arbeitsleistung:
142 hat man zur Arbeit geschickt. Mich hat man hier gelassen, da ich über 60 bin. Ich habe mich freiwillig gemeldet, weil es furchtbar ist, hier zu sein, und man wird ganz verzagt. Ich habe schlechte Gefühle
. Um zu den Arbeitsstellen zu gelangen, brauchen die Zwangsarbeiter aus der Konstanziagasse dreieinhalb Stunden mit der Straßenbahn, danach ist noch eine Strecke zu Fuß zurückzulegen. Der tägliche Arbeitseinsatz endet nicht vor 6, 7 Uhr abends. Am 28. Juli 1944 heißt es im Kalender:
Ich bin körperlich unten durch. Die Arbeit wäre nicht schlecht, aber man gibt uns nichts zu essen
. Die häufigen Eintragungen über das Essen (ungenießbar, furchtbar schlecht, furchtbar mies) korrespondieren mit Eintragungen über Diarrhöe. Bereits am 18. Juli 1944 notiert József Bihari:
Vor Hunger komme ich fast um
. Sein Ernährungszustand bessert sich ab 9. August zwischendurch ein wenig, als er zur Zwangsarbeit in der Mautner-Bierfabrik in der Prager Straße 20 eingeteilt wird:
Wir mussten Schutt abtragen. Die Arbeit ist sehr schwer, aber in der Kantine gibt es Mittagessen und ein Krügel Bier
. Zu allem Unglück wird József Bihari auch noch von diversen Abszessen gequält, die Lähmungserscheinungen am Bein und im Gesicht bessern sich nicht. Seine wiederholten Krankmeldungen werden nicht akzeptiert.
Ich habe mich wieder krank gemeldet, aber man lässt mich nicht. Man muss hier krepieren
, notiert er am 11. September 1944. Vom freiwilligen Charakter der Arbeit für über Sechzigjährige ist längst keine Rede mehr. Bihari muss 7 Tage die Woche als Bauhilfsarbeiter und Maurer schuften, stundenlang 8 bis 10 Ziegel auf einmal am Rücken in ein Stockwerk hinauftragen, Mörtel mischen und mit dem Krampen arbeiten. Freie Tage sind so selten wie ausreichende Tagesrationen:
Heute haben wir einen freien Tag, da eine Bombe den Architekten erschlagen hat und heute ist sein Begräbnis
. Ohne die Solidarität seiner Leidensgenossen in der Konstanziagasse hätte József Bihari wohl das Jahr 1944 nicht überlebt. Ein Mitgefangener namens Lászlo, geschickt im Organisieren von Lebensmitteln, versorgt ihn mit zusätzlicher Nahrung. 2 Frauen, Ethel Epstein und Frau Tabak, beginnen für den weitgehend hilflosen, heimwehkranken, deprimierten und wohl auch nicht besonders geschickten Mann zu waschen und zu nähen.
Ich bin sehr gealtert. Ich bin schon ein Greis geworden, aber das sieht man auch bei den anderen
, notiert er am 21. Oktober 1944. Ab Mitte November hat er in der Destillerie, Hefe- und Konservenfabrik der Familie Mautner in der Simmeringer Hauptstraße 101 zu schuften. Die Arbeit beschreibt er als relativ leicht, nur zwingt sie ihn, den ganzen Tag im Freien zu verbringen. Der einzige Anzug, den József Bihari besitzt, besteht mittlerweile
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