2233 - Das Specter
sein: Etwas wie sie hatte es noch nie gegeben.
„Ich weiß schon, dass es schwer fällt, sich von fast allem zu trennen, was einen noch mit dem Früher verbindet. Bist du dennoch dazu bereit?"
Ja, sie war es. Bereit, die Vergangenheit ruhen zu lassen, das Geschehene bis auf weiteres abzukapseln in der schwarzen Seelenpfütze. Das Leid, die Verletzung; die Flucht, die Verstellung. Adios, Maykie! Byebye, Maulwurf!
Sie war bereit, die Gegenwart anzunehmen, sich der Zukunft auszusetzen. Sich dem ganzen Spektrum ihrer jetzigen Existenzform zu öffnen.
„Ein schönes Wort ist das, >Spektrum<, nicht wahr? Synonym für Bandbreite, Palette, Reichtum, Vielfalt..."
Als ersten Schritt gab sie sich einen neuen Namen. Es sollte weder ein weiblicher noch ein männlicher sein; Geschlechtliches besaß keine Relevanz mehr.
„Das Spektrum". Ganz hübsch, doch noch nicht vielschichtig, nicht ambivalent genug. Gab es ähnlich klingende Begriffe? Ja. „Respekt", „Aspekt", „suspekt" ... In einem altterranischen Dialekt wiederum bedeutete „spectre" Gespenst.
Geist. Geist in der Maschine ...
Das passte.
Sie empfand eine Art von genießerischer Genugtuung. Vielleicht hätte sie dieses Gefühl früher als Zufriedenheit bezeichnet. Wie auch immer, die Wesenheit hatte das Wort gefunden, den synthetisierten Ausdruck, den sie verwenden wollte, wenn sie an ihr reinkarniertes Selbst dachte. Von jetzt an verstand sie sich als das Specter.
*
(Bericht Bounty Errol:) Um 20:09:24 Uhr lokalisierten wir das feindliche Kommando in einem Versorgungs- und Wartungsstollen auf der 40. Etage. Ich gebe zu, dass wir sie zu diesem Zeitpunkt viel weiter oben im Gebäude vermutet hatten.
Eine Infrarot-Optik registrierte plötzlich Wärmestrahlung, worauf KHASURN die Beleuchtung einschaltete. Und da waren sie: eine Gruppe dunkler Gestalten, kaum kenntlich unter den Tarnhüllen.
Und auch nur kurz sichtbar, denn natürlich verbargen sie sich sofort hinter ihren Deflektorfeldern. Viel half ihnen das nicht mehr, aus zwei Gründen. Erstens: Wir hatten sie nun in der Ortung. Zweitens: KHASURN benötigte so gut wie keine Zeit, um die Aufzeichnungen der Kameras hochzurechnen und uns in holografischer Darstellung zu präsentieren, wer unter den Spezialfolien steckte. Es handelte sich um Shallowain den Hund und sechs weitere Männer, allesamt Arkoniden. Sowie, als leblose Bündel auf den Rücken zweier Träger geschnallt, Filana Karonadse und Mal Detair. Der Jubel, der in der Überwachungszentrale nach Entdeckung der Gesuchten ausgebrochen war, verstummte jählings wieder.
Hektisch beratschlagten wir, was nun zu unternehmen sei, wobei wir auch KHASURN und – über die stehende Funkverbindung – den Liga-Verteidigungsminister mit einbezogen.
Reginald Bull machte nicht viele Worte. Knapp und unmissverständlich brachte er zum Ausdruck, dass er nicht daran dachte, mir die Verantwortung abzunehmen.
„Bedaure, Bounty, aber das ist ausschließlich deine Show", sagte er. „Du bist vor Ort, kennst überdies das Gebäude viel besser als ich. Und worum es geht, brauche ich dir nicht zu erklären." Dass die Positronikerin und der Tierheiler in höchster Lebensgefahr schwebten, war uns allen klar. An Shallowains Fingern klebte das Blut Dutzender unschuldiger Opfer. Wenn wir ihm den Weg verlegten, würde er mit der Folterung oder Ermordung der Geiseln drohen. Und dass er davor garantiert nicht zurückschreckte, hatte er in der Vergangenheit mehr als einmal bewiesen.
Umgekehrt konnte er davon ausgehen, dass wir Karonadse und Detair auf keinen Fall gefährden würden. Unsere Situation war also alles andere denn rosig, unsere personelle Übermacht keinen Pfifferling wert.
Wollten wir den Hund aufhalten, mussten wir ihn zuerst der Geiseln berauben. Tja. Gut gesagt.
Aber wie sollten wir das anstellen?
*
Das Specter hatte sich einen Namen gegeben. Als Nächstes machte es sich ein Bild.
Die Wahl fiel ihm nicht leicht. Schier unermesslich erschienen seine Möglichkeiten. Es stellte fest, dass es jede Gestalt benutzen konnte, über die Daten in ausreichender Dichte vorlagen; und zwar nicht nur in seinem eigenen Gedächtnis, sondern in jedem beliebigen Speicher des Netzwerks! Stunden-, tage- ,wochenlang flanierte das Specter als formloser Schemen durch die unzähligen Datenbanken der Botschaft, stöberte und schmökerte mal hier, mal dort. Den dünnen, extrem dehnbaren Faden zog es mühelos hinter sich her. Die virtuelle Nabelschnur verband es mit
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