2249 - Die Blutnacht von Barinx
dann noch zwei weite Sätze und reckte sich zu voller Größe. Sein kantiger Schädel verschwand beinahe im Laub von Uralt Trummstam, die beiden langen Hüftarme griffen nach einem Ast und bogen ihn nach unten.
Lyressea glaubte schon, ein grässliches Splittern zu hören. Doch das war Einbildung.
Schutzherr Jopahaim entstammte einem Volk schuppenhäutiger Vegetarier aus Amringhar. Ihr kräftiges unteres Armpaar diente tatsächlich dazu, Äste abzubrechen oder wenigstens bis auf Kopfhöhe herabzubiegen. Die beiden stummelähnlichen Schulterarme rissen anschließend Laub, Blüten und Schmarotzerpflanzen ab und schoben alles zwischen die kräftigen Kauleisten.
Ein vielstimmiger Aufschrei hallte durch den Domhof. Offensichtlich befürchtete jeder, dass der Grigha Uralt Trummstam schänden würde. Aber er wandte nur den Kopf und brüllte so laut, wie es niemand sonst gewagt hätte: „Gibt euch das nicht zu denken? Muss ich erst aus Amringhar kommen, um euch die Augen zu öffnen? Wir sind zum Handeln gezwungen - es gibt keine Alternative."
Die allgemeine Unruhe war nicht mehr zu leugnen. Carya Andaxi, in einer mit Wasser gefüllten Mulde liegend, wuchtete ihren massigen Körper auf den Vorderflossen mehrere Meter in die Höhe. „Wenn die Veränderungen in der Tat so einschneidend sind, müssen wir reagieren!", rief sie dumpf. „Auf keinen Fall dürfen wir durch weiteres Zögern den Orden gefährden!"
„Habt ihr das nicht bereits getan? In Jamondi wähnt ihr euch in Sicherheit, während vor euren Augen das Negative ungehindert wächst." Jopahaims Stummelschwanz peitschte von einer Seite zur anderen. Er schloss die Greiffmger beider Nahrungsarme um den nach unten gebogenen Ast und ließ sie daran entlangfahren.
In dem Moment war nur das Schaben seiner Hautschuppen über die Rinde zu hören.
Gefolgt von einem entsetzten Aufschrei, als er ein Bündel abgerissener Blätter hochhielt.
Es waren keine frischen Blätter. Der Schutzherr aus Amringhar hatte nur das welke Laub zusammengerafft. „Genügt euch das als Beweis?" Schwerfällig, ganz im Gegensatz zu seinen zuvor geschmeidigen Bewegungen, stapfte Jopahaim zu seinem Platz zurück.
Die kahle Stelle, die er in das Laub von Uralt Trummstam gerissen hatte, wirkte hässlich.
Niemand konnte sie übersehen.
Der Dom von Parrakh war die exakte Kopie des Domes Rogan auf Tan-Jamondi II. Von außen ein zapfenförmiges, elegantes Bauwerk, 230 Meter hoch, mit einem größten Durchmesser von 300 Metern. Er war das geistige Zentrum des Ordens in Amringhar, einst Grundlage für die Befriedung der Kybb-Völker, die längst keine Bedrohung mehr darstellten.
Ein Wall umgab heute den Dom - die nach dem Absturz des Nocturnenstocks aufgebrochenen, mit Lava verbackenen Erdschollen hielten das Wasser fern.
Brücken spannten sich über den See, und rings um den Dom schwammen Antigravplattformen. Dennoch war der zur Verfügung stehende Platz zu gering. Einige zehntausend Wesen standen dicht an dicht auf den künstlichen Inseln, aber immer noch drängte eine schier unüberschaubare Menge über die Brücken heran. „Die Aufzeichnung stammt vom Jahrestag", erklärte Jopahaim. „Begangen vor vierunddreißig Tagen nach Tan-Jamondi-Zeitrechnung. Es war der Jahrestag der Rettung Satrugars durch Gon-Orbhon."
Ein dumpfer, schwingender Ton hing über dem See. Für viele lag er an der Grenze zur Hörbarkeit.
Echsen- und Amphibienwesen dominierten das Bild. Auch Insektoide in den unterschiedlichsten Größen - Käferartige, die sich mit unaufhaltsamer Stärke weiter nach vorne schoben; plumpe und massige Gestalten, deren verkümmerte Hautflügel wie Relikte einer lange zurückliegenden Entwicklungsepoche wirkten, aber ebenso schlanke, in der Taille bis zur Zerbrechlichkeit eingeschnürte Leiber, deren Schädel kräftige Beißzangen trugen. Die wenigen humanoiden Lebewesen verloren sich in dem Gedränge schier.
Lyressea reagierte wie elektrisiert, als sie mehrere Motana entdeckte. Sie wusste nicht, dass dieses Volk bereits Siedlungen in Amringhar besaß. Vor zwei Jahrzehnten war ein Bionischer Kreuzer im Randgebiet der Satellitengalaxis verschollen, die näheren Umstände hatten nie geklärt werden können. Lyressea ahnte, dass sie die Überlebenden der Schiffsbesatzung sah. Ein rascher Seitenblick verriet ihr, dass auch Gimgon nachdenklich geworden war. Fast hätte sie ihn hinter dem Holo nicht gefunden, denn er wurde von einer Gruppe andächtig wartender Shoziden verdeckt. Sie waren
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