2285 - Tag der Verkündung
„Fliegenden Rochettes" brachen bald wieder auf. Bei Ostia gelangten sie ans Meer, und Matti erblickte das Monstrum.
Obwohl der Vesuv noch rund zweihundert Kilometer südöstlich lag, ließ sich der darüber positionierte Kybb-Titan beim besten Willen nicht übersehen. Dunkles Gewölk ballte sich rings um das Riesenraumschiff, schuf eine Zone der Finsternis inmitten des klaren, helllichten Tages und verstärkte den Eindruck noch, ein obszön überdimensionierter Fremdkörper habe auf brutalste Weise ein klaffendes Loch ins Idyll gerissen.
Als würde der Himmel von einem Krebsgeschwür zerfressen, dachte Matti, die Zähne zusammengebissen, während sie entlang der Küste darauf zuhielten. Ihm wurde schlecht. Eine gute Viertelstunde lang kämpfte er damit, sein Frühstück bei sich zu behalten.
Was den Kybb-Titanen für menschliche Augen so unerträglich machte, war die perverse Diskrepanz von Form und Größe. Unwillkürlich dachte man wegen der fasrigen, unregelmäßigen Kugelgestalt mit den zahlreichen, organisch wirkenden Auswüchsen und sich in allen Richtungen krümmenden Fortsätzen an eine Zelle. Also an etwas mikroskopisch Kleines. Das Gehirn weigerte sich zu akzeptieren, dass dieselbe Form einem dermaßen gigantischen Gebilde zu Eigen sein sollte, welches mit freiem Auge auf große Distanz sichtbar war - und reagierte auf den „verbotenen" Anblick mit Übelkeit. Über sechzehntausend Meter Durchmesser, versuchte sich Matti an die Fakten zu klammern.
Damit reicht dieser Moloch bis in die Stratosphäre hinauf!
Je näher sie kamen, desto dominanter wurde das Gebilde, desto erdrückender wuchs es über ihnen auf. Der Himmel verdüsterte sich von Minute zu Minute, bis er fast zur Gänze von den Gewitterwolken und dem aufgedunsenen Leib des Ungetüms ausgefüllt wurde. Als dessen Schlagschatten auf den Schweber fiel, kroch Eiseskälte in Matti hoch.
Hat sich was mit lieblichem Lenz und Frühlingsgefühlen. Neapel sehen, dachte er, und frieren
56.
Picco hasste die Reisen von einem Auftrittsort zum anderen. In der Enge des Personalschwebers kam er nicht zum Üben. Früher hätte er sich mit Trinkalkohol betäubt; seit er nicht mehr soff, war ihm schrecklich langweilig.
Und sämtliche Trivideo-Sender brachten tagaus, tagein nichts als Glorifizierungen Gon-Os, Bilder von Exekutionen und Reden von Carlosch Imberlock. Auch im Radio wurden die Musikstücke rüde durch religiöse Botschaften unterbrochen. Das ewige Geseire vom 15. April, dem „Tag der Verkündung", konnte Picco schon nicht mehr hören.
Er lag auf seinem Bett, versuchte zu dösen, mäßig erfolgreich. Starrte an die Decke der abgedunkelten Kabine und stellte sich Mondra in einem Stringtanga vor: frustrierend, da außer Reichweite. Spielte gerade ernsthaft mit dem Gedanken, auf seine alten Tage mit dem Lesen anzufangen... Da hielt der Schweber an.
Draußen erklangen barsche Stimmen: „Aussteigen! Alle raus, sofort!"
Picco zog die Vorhänge auf. Er schluckte. So hatte er sich Neapel nicht vorgestellt.
Vom Meer war nichts zu sehen, auch vom Vesuv nicht. Dafür regnete es in Strömen. Die Szenerie oder was er davon erkennen konnte, präsentierte sich grau in grau, mit grauen Einsprengseln und noch etwas grauerem Grau im Hintergrund. Graue Figuren mit Schießprügeln liefen hin und her, etliche davon stachelbewehrt. Kybb-Krieger.
Picco graute.
Er blickte auf sein Chronometer, weil er nicht glauben konnte, dass es mitten am Nachmittag so zappendüster war. War es aber doch. „Tolles Wetter, gell?", sagte er im Gang zu Gertraudis. Die Ertruserin, die aus nahe liegenden Gründen eine Doppelkabine bewohnte, zwängte sich gemächlich, doch recht geschickt durch den schmalen Ausstieg. Wahrscheinlich hatte sie das ihrem Partner Tunc abgeschaut. „Sehr viel besser wird's nicht mehr werden", gab sie über die Schulter zurück. „An den Flanken des Kybb-Titanen regnen die Wolken ab wie an einem Gebirgszug. Wir sind direkt unter diesem Wasserfall stehen geblieben, etwa zehn Kilometer vom Stadtzentrum entfernt."
Wer wollte eigentlich unbedingt hierher?, fragte sich Picco. Ach ja: ursprünglich alle.
Und dann, nach der Annexion durch Gon-Os Truppen, vor allem unsere beiden neuen Kollegen.
Warum genau, hatten sie immer noch nicht verlauten lassen. Aus Sicherheitsgründen: Was man nicht wusste, konnte man auch unter Folter nicht preisgeben.
Ihn fröstelte. Er hätte seine Jacke anziehen sollen. Ein kalter Wind trieb Regenschleier über den
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