2285 - Tag der Verkündung
Beförderung von Personen gab es das Rohrbahn-Netz; Frachttransporte wurden umweltschonend in höheren Gefilden abgewickelt. Private Sportgleiter, die an die veränderten Bedingungen angepasst worden waren, zählten allerdings immer noch zu den Luxusgütern. Dass die Rochettes ihre Schweber relativ bald wieder flottbekommen hatten, war Mattis technischem Improvisationstalent zu verdanken.
Wenn Babett des Fensterguckens müde wurde, widmete sie sich ihrem Patienten. Der fügte sich vorbildlich in sein Schicksal und ließ sich von ihr nach Strich und Faden verwöhnen. Sie genoss das mindestens so sehr wie er.
Die erste Etappe ihrer Reise Richtung Süden war rasch absolviert. In der hübsch verschlafenen Kleinstadt Graz legten sie einen Zwischenstopp ein. Sirene war es gelungen, hier ein Kurzengagement zu ergattern.
Dazu mussten sie nicht einmal das Zelt aufbauen. Es handelte sich um einen nur einstündigen Auftritt im Rahmen einer Stadion-Gala zu Ehren des hiesigen Fußballvereins „Athletikersturm", der zum dritten Mal hintereinander Weltmeister geworden war.
Bei dieser Gelegenheit gab Babett ihr Comeback am Drahtseil. Sie hatte schon während der letzten Tage mit ihrer „Vertretung" Ashanty trainiert. In Graz begeisterten sie erstmals zusammen das überaus dankbare Publikum; schwesterlich teilten sie sich den Applaus.
Nach dem Abendessen fuhren sie weiter. Angesichts des niedrigen Verkehrsaufkommens konnte die Steuerung der Schweber getrost den Autopiloten überlassen werden. Obendrein teilten sich Matti, Fryzzil und Obacht die Wache in der „Kapitänskuppel" von Schweber Eins.
Babett bot ihrem „Paulchen", wie sie ihn zärtlich nannte, an, auch die Nacht bei ihm zu verbringen. Diese Offerte sei verlockend, meinte er augenzwinkernd, doch wegen seiner Gehirnerschütterung müsse er leider dankend ablehnen. Das akzeptierte sie.
Erst in ihrer Kabine, kurz bevor sie wegdämmerte, fiel ihr ein, dass sie seit acht, nein neun Tagen keinen Brief mehr an ihren Vater geschrieben hatte. Ja, sie hatte die ganze Zeit über nicht an ihn gedacht!
Offenbar war Paulchen nicht der Einzige, dessen Heilungsprozess gut voranschritt.
55.
„Irgendwelche besonderen Vorkommnisse?", fragte Matti, als er am nächsten Morgen Obacht in der Kapitänskuppel ablöste. „Nö. Militärpatrouille am Pordoi-Joch. So genannte Gebirgsjäger, was immer das auch sein mag.
Haben ein paar Witze gerissen, das war's."
„Verstehe." Einfache Gemüter verbanden, wenn sie einem Naat begegneten, diesen automatisch mit dem Arkonidischen Imperium, in dessen Streitkräften viele Angehörige von Obachts Volk dienten. „Bin ich gewohnt."
Matti klopfte dem Bühnenmeister auf den strammen Oberarm und nahm seinen Platz ein.
Mittlerweile bewegte sich der Konvoi durch die Po-Ebene. Auch hier grünte und blühte es herzerfrischend.
Ihre Route entsprach weitgehend dem Verlauf der historischen „Strada del Sole". Der herrliche Tag machte diesem Namen alle Ehre. Azurblau und fast wolkenlos wölbte sich der Himmel über ihnen. Matti vermeinte, die warmen Strahlen der Sonne trotz der phototropen Windschutzscheibe auf seiner Haut zu spüren.
Doch sein Hochgefühl erlitt einen Dämpfer, als eine Staffel von Kybb-SPORNEN über sie hinwegdonnerte. Die hässlichen grauen Kampfflugkörper erinnerten Matti schlagartig wieder daran, dass sie sich mitnichten einem mediterranen Paradies näherten.
Sondern der Höhle des Löwen, Gon-Os Bastion am Vesuv ...
An den Vulkan mochte Matti di Rochette schon gar nicht denken. Über Jahrtausende waren die Neapolitaner von Eruptionen verschont worden. Ausgerechnet er, der friedliebendste, gewaltloseste Philanthrop, sollte mithelfen, das schlafende Unheil zu wecken ...
Bei Montepiano überquerten sie den Apennin. Sie umfuhren Florenz, Arezzo und Orvieto, folgten dem Tal des Tibers bis Rom, wo sie im Stadtteil Cinecittä zu Mittag aßen.
Merkwürdigerweise hatte Imberlocks Sekte hier eine besondere Form der Terra-Nostalgik wieder belebt: Mediengestaltung, insbesondere Dramenstoffe.
Eine eigenartige Stimmung erfüllte Cinecittä. Einerseits rege Betriebsamkeit, denn es wurde mit Volldampf an mehreren Verfilmungen von Imberlocks Leben und Verheißungen gearbeitet. Andererseits ein Klima der Paranoia und des gegenseitigen Misstrauens, denn auch hier standen Produzenten, Kreative und Schauspieler unter der Fuchtel der Kirche Gon-Os. Jeder verdächtigte jeden; die Studios brummten vor Falschheit und Intrigen.
Die
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