2286 - Triptychon
durchflutete ihn unbändige Hoffnung, und er befürchtete nicht mehr, dass er hier und jetzt sterben würde.
Das Material, aus dem die Wand bestand, schien zu zerfließen. Es schlug Blasen, die sich ausdehnten, immer größer wurden, sich zu etwas Neuem formten ...
Zu einem Zifferblatt.
Und dann zu einer Uhr.
Das Zifferblatt wuchs aus der Wand heraus. Die Zeiger verloren ihre Festigkeit, hingen schlaff herab, gerieten in Schwingung, pendelten hin und her, hin und her, wurden wieder hart, bildeten Füßchen aus, dann ein Gehäuse, das allerdings sofort wieder in sich zusammenbrach und sich zu einem Uhrwerk ausstülpte.
Nein, dachte Myles, nicht schon wieder! Warum ausgerechnet jetzt? Und warum sehe ich dabei Uhren?
Es war genau wie damals, am 12. Februar, als er in Volcan-Center einen ähnlichen Anfall gehabt, sein subjektiver Zeitverlauf sich verlangsamt hatte. Auch damals hatte er eine Uhr gesehen.
Warum ausgerechnet eine Uhr? Weil er antike Uhren sammelte, geradezu fasziniert von ihnen war?
Weil Uhren seines Erachtens ein Geheimnis bargen, das er seit Jahrhunderten zu entschlüsseln versuchte?
Genügte das wirklich als Erklärung? Konnte man so etwas überhaupt erklären?
Gab es überhaupt solch ein Geheimnis? Deutete er nicht etwas in einen simplen Gegenstand wie eine Uhr hinein, was gar nicht vorhanden war? Er mochte antike Uhren, das war alles.
Genau wie bei dem vorherigen Anfall war ihm auch diese Uhr bekannt. Es war eine offene Uhr, eine so genannte Laternenuhr ohne Gehäuse. Wenn man sie von vorn betrachtete, verdeckte das versilberte Zifferblatt aus Messing das Uhrwerk, von der Seite und von hinten war es in allen Einzelheiten zu sehen. Das Werk war sauber gearbeitet, von einem Uhrmacher mit Sinn für Proportionen. Es war robust gebaut, ohne klobig zu wirken. Eigentlich verfügte die Laternenuhr über drei Werke. Neben dem Gehwerk mit Spindelhemmung und Kurzpendel waren das Viertelstundenschlagwerk und das Stundenschlagwerk angebracht.
Die Uhr hatte sich ursprünglich vermutlich in einem Uhrenkasten befunden, anders ließen sich der Glockenstuhl und die Klöppel nicht erklären. Doch er hatte sie in diesem Zustand bekommen.
Er bewunderte die filigrane Signatur von J. Roufset, einem hervorragenden Pariser Uhrmacher. Das Stück war wohl um das Jahr 1720 alter Zeitrechnung entstanden.
Und es gehörte zu seiner Sammlung, wie die Morez-Wanduhr, die er beim ersten Anfall gesehen hatte.
Ein Schatten fiel auf das altertümlich anmutende Gebilde, eigentlich nur der Hauch einer Bewegung, ein Schemen. Es war sofort wieder verschwunden, legte sich dann aber auf sein Gesicht - und verharrte.
Verschwommen machte Myles ein schmales Gesicht aus, darüber eine kantig geschnittene Kurzhaarfrisur von einem dunklen Kastanienbraun.
Wo die Augen hätten sein sollen, sah er nur ein glitzerndes Funkeln.
Inshanin! Wie immer trug sie ihre Brille, ohne die sie blind war.
Die Plophoserin schüttelte den Kopf, und ihre Wangen schienen zu schwingen. Wie halb durchsichtige Abziehbilder zogen sie die Haut hinter sich her. Dann, mit dem nächsten Atemzug, den er eigentlich nicht mehr für möglich gehalten hatte, begann seine Zeitwahrnehmung sich zu normalisieren, und Tausende transparenter Wangen wurden wieder zu einer ganz normalen aus Fleisch und Blut.
Ein hohes Zirpen drang an seine Ohren, wurde aber zusehends tiefer, verständlicher. „Habe ich es nicht gesagt?", verstand er endlich. „Ein Anfall von Takvorianismus! Es war unverantwortlich von dir, mit an Bord der INTRALUX zu kommen! Du gefährdest uns alle!" Inshanins Stimme klang kratzbürstig und vorwurfsvoll, aber zugleich auch besorgt.
In diesem Augenblick wusste Myles Kantor mit absoluter Sicherheit, dass er die Hochfrequenz-Physikerin liebte, wirklich und wahrhaftig liebte.
Warum?, fragte er sich. Von ihrem Beruf einmal abgesehen hatten sie so gut wie nichts gemeinsam.
Inshanin hatte sich ihm gegenüber von Anfang an abweisend benommen, vor versammelter Mannschaft seine Autorität herausgefordert, ihm widersprochen, ihn kritisiert, wo immer es möglich gewesen war und er einen Angriffspunkt geliefert hatte. Und doch ...
Vielleicht lag es genau daran; vielleicht hatte ihre strikte Ablehnung ihn gereizt, herausgefordert. Er wusste es nicht, und eigentlich spielte es auch keine Rolle. Wenn er eins gelernt hatte, dann, dass Liebe keine exakte Wissenschaft war. Sie ließ sich nicht berechnen; sie schlug einfach zu, unmotiviert, anscheinend sinn- und grundlos
Weitere Kostenlose Bücher