Der Bestatter: Thriller (Christian Beyer-Reihe)
Man kann in das Haus hineinsehen, wenn man will. Normalerweise
tut man das nicht bei fremden Häusern, es ist ja auch sehr indiskret und gehört
sich deshalb nicht. Aber hier kann man, wenn man will. Denn dieses Haus ist ein
Musterhaus. Ein Musterhaus für die junge Familie. Bewohnt von mustergültigen
Menschen. Gebaut nach modernsten Standards, alles schön hell, Wohnzimmer mit
Schiebetüren aus Glas zur Terrasse, Küche, Elternschlafzimmer nach hinten, Bad,
Gästetoilette, Kinderzimmer, Vollkeller mit Partyraum. Wenn man will, kann man
sogar eine Sauna einbauen, soviel Platz ist im Keller. Der pflegeleicht
angelegte Garten ist nicht einsehbar. Viele Familien träumen von einem solchen
Haus. Es ist wirklich besonders, auch wenn man es nicht auf den ersten Blick sieht.
Manche Familienväter glauben protzen zu müssen seit dem Wirtschaftswunder. Mit
einem dieser neumodischen Bungalows, einem Mercedes Strich Acht vor der Tür und
riesigen Klingelschildern aus Messing. Doch dieses Musterhaus ist was für die
normale Familie, die unauffällig ihr kleines, privates Glück leben will. Ohne
gestört zu werden durch die neidischen Blicke der Nachbarn.
Jetzt zum Beispiel ist in diesem Haus, wie in allen anderen
Häusern in dieser Straße, in dieser Stadt, ein ganz normaler Abend im Dezember.
Es ist still, der Schnee, der sich an den Straßenrändern fast einen Meter hoch
türmt und auf der Fahrbahn zu einer zentimeterdicken Schicht verdichtet ist,
schluckt die Fahrgeräusche der wenigen Autos, die um diese Uhrzeit noch
unterwegs sind. Es ist fast halb zwölf. Im Wohnzimmer, das einen aufgeräumten
und gepflegten Eindruck macht, sitzt die Mutter auf der Wohnlandschaft aus
braunem Cord. Das Strickzeug liegt unberührt in ihrem Schoß, sie starrt ins
Leere. Man könnte denken, sie sei mit offenen Augen eingenickt oder warte
abwesend auf irgend etwas. Die Fensterläden sind fest verschlossen, nur eine
Stehlampe wirft ihren Lichtkegel auf den Couchtisch. Die Doppelflügeltür zum
Flur steht offen.
Es ist alles ganz still. Bis die Tür geöffnet wird, die nach
unten zum Partykeller führt. Der Vater tritt auf den Flur, in den Armen hält er
seinen neunjährigen Sohn. Der Junge trägt eine bunte Unterhose mit kleinen
Elefanten drauf. Er scheint ein wenig zu frieren. Ohne ins Wohnzimmer zu
blicken, geht der Vater mit seinem Sohn stumm nach oben ins Kinderzimmer. Die
eine Wand des Kinderzimmers ist blau gestrichen. Irgend jemand hat mit wenig
Geschick Delphine auf die blaue Wand gemalt. Vor der Wand steht das Kinderbett.
Der Vater läßt den Jungen aus seinen Armen ins Bett gleiten und deckt ihn
liebevoll zu. Der Junge hat bislang kein Wort gesprochen. Keiner hat bislang
auch nur irgendein Wort gesprochen.
»Möchtest du Willi haben?« fragt der Vater ihn sanft. »Willi
ist fort«, antwortet der Junge tonlos. Der Vater sieht sich um und entdeckt den
Teddy auf einem Kinderstuhl sitzend vor der blauen Wand, direkt neben dem Bett.
»Hier ist er doch«, sagt der Vater. Er nimmt den zotteligen Bären und legt ihn
dem Jungen aufs Kopfkissen, direkt neben sein Gesicht.
»Schön hast du das gemacht. Braver Junge. Nimm Willi und schlaf
jetzt«, sagt der Vater mit ruhiger Stimme. Er drückt dem Jungen einen Kuß auf
die Stirn und geht hinaus. Der Junge schubst den Teddy aus dem Bett und
vergräbt sein Gesicht im Kissen. Er schämt sich, aber er weiß nicht warum. Sein
Kopf ist so schwer. Alles tut weh. Dann kommt die Mutter herein. Sie zieht das
Bettlaken wieder zurück, zieht dem Jungen den Schlüpfer mit den Elefanten
herunter und reibt stumm seinen geröteten kleinen Pimmel und den blutenden Anus
mit Wundsalbe ein.
Freitag, 24. Juni
»Ab hier müssen wir zu Fuß weiter. Ein kurzes Stück.« Der
Beamte, der Christian und sein Team vom Flughafen abgeholt hatte, parkte das
Auto an einer Verbreiterung des Weges, ganz eng an den Bäumen, durch die sich
ein Pfad hindurchschlängelte. Christian öffnete die Beifahrertür und stieg
entschlossen aus dem Wagen. Sein rechter Fuß landete in einer tiefen Pfütze. Er
nahm es mißgelaunt zur Kenntnis und schlug den Kragen seiner zerknitterten
Sommerjacke hoch. Dennoch lief ihm der Regen sofort durch die dichten schwarzen
Locken in den Nacken. Er fluchte laut.
Eberhard, Volker und Karen entstiegen kommentarlos dem Fond des
Autos, nahmen ihre Einsatztaschen aus dem Kofferraum und folgten Christian und
dem Beamten bergab, den schlammigen Pfad entlang. Seit Stunden schüttete es wie
aus Kübeln. Der
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