23 - Im Reiche des silbernen Löwen IV
aber nun in eine viel größere geraten. Wie behend sie klettern konnten! Wie sie sprangen und rannten, ganz gegen alle früher gezeigte Würde! Nur um den lieben, irdischen Leib in Sicherheit zu bringen! Nach diesen drängten sich die andern aus der Tür, alle die Feinde, die wir bei den Taki hatten. Sie schoben sich; sie stießen sich; sie trieben einander mit den Fäusten vorwärts. Ihre Zahl wuchs mehr und mehr. Und wie sie so dem Dunkel der Erde entquollen und schreiend, fluchend, stolpernd, übereinander stürzend, in sinnloser Hast zu entrinnen und nur zu entrinnen suchten, kamen sie mir vor wie fliehende Ratten, welche von ihrem Schiff nichts mehr wissen wollen, weil es zu sinken beginnt. Sie waren so voller Angst und so Hals über Kopf verwirrt und verschüchtert, daß sie sofort alles, was sie an Waffen bei sich trugen, wegwarfen, als der Oberleutnant ihnen unten entgegentrat und sagte, daß er sie als Feinde gefangenzunehmen habe. Trotz dieser Bereitwilligkeit aber erklärten der Selige, der Heilige, der Imam und die beiden Generäle, sofort mit dem Ustad sprechen zu müssen. Weder sie noch die hier anwesenden Taki hätten je irgend etwas gegen uns unternommen, und es sei also eine schreiende Ungerechtigkeit von uns, sie als Gefangene zu betrachten und zu behandeln. Als sie hörten, daß der Ustad hier oben am Bei-y-Chodeh sei, verlangten sie, hinaufgeführt zu werden, damit diese wichtige Sache sogleich entschieden werde. Er hielt es für keinen Fehler, auf dieses Verlangen einzugehen, und so sandte er uns die ganze Kohorte zu, von einer Anzahl Leibgardisten als Wache begleitet.
Als sie oben anlangten, kamen sie alle in den Tempel herein und stellten sich hinter uns auf. Der Selige trat vor, um zum Ustad zu sprechen; dieser aber forderte ihn auf, jetzt noch zu schweigen und hinüber nach den Ruinen zu sehen, wo soeben ein anderer zu sprechen beginne, der über allen Seligen erhaben sei und dessen Rede man nicht nur zu hören, sondern auch zu sehen bekommen werde.
Er hatte mit diesen Worten nicht zuviel gesagt, denn was sich jetzt da drüben vorbereitete, mußte jeden, der es sah, mit Grauen erfüllen. Es war im Osten vollständig morgenrot geworden, und die Sonne stand mit dem Aufgang nah. Die Alabasterkrone hoch oben lag bereits in vollster, goldiger Glut. Sie flimmerte wie von Millionen Diamanten und Rubinen. Aber tief unter ihr war es unheimlich, denn da begann es sich zu regen und zu bewegen, und man konnte doch nicht deutlich erkennen, wo und wie. Es war wie ein langsames Wiegen hin und her. Hier und hier und dort und da schütterte und verschwand der Boden in sich hinein, in die Tiefe, wie durch sich bildende Schächte. Wir hörten einen Knall, als ob die Erde von innen heraus auseinandergesprengt werde. Es folgte ein steinernes Knacken und Prasseln, wie von einem gigantischen Ungeheuer, welches Berge verzehrt und die Felsenknochen derselben mit den Zähnen zermalmt. Und da – da – da tat sich vor unsern Augen da drüben ein furchtbarer Rachen auf und begann die Ruinen mitsamt den herabgestürzten Höhenmassen zu verschlingen! Und während sie in diesem heißhungrigen, gefräßigen Schlund verschwanden, schoß ihm das emporgetriebene Wasser der Tiefe über die Lefzen und wurde zu gleicher Zeit mit einer solchen Gewalt aus dem Kanal in den See gepreßt, daß es sich wie ein beutegieriger, springender Leviathan über seine Fläche stürzte und erst weit draußen verendend niedersank.
Wir aber achteten weder auf den jetzt plötzlich in hohen Wellen gehenden See, in den sich der ganze Inhalt der unterirdischen Bassins zu ergießen hatte, noch auf sonst etwas anderes, sondern nur auf eine einzige Stelle, die unsere Aufmerksamkeit in fast wunderbarer Weise gefangennahm. Wir sahen von den Ruinen nur noch die vordere Mauer. Alles, was hinter und über ihr gelegen hatte, war verschwunden, in ein vollständig ebenes Feld verwandelt, fast genauso, wie es von der Kirchenzeichnung des Ustad dargestellt wurde. Und grad da, wo auf dieser Zeichnung im Hintergrund der Säulenhalle das leere Postament stand, leuchtete uns die herrliche Alabastergestalt des durch die Katastrophe nun endlich erlösten ‚verzauberten Gebets‘ entgegen. Vom dunkeln Hintergrunde der Nische uns doppelt hell gezeigt, streckte es seine emporgehobenen Arme dem Aufgang der Sonne entgegen, um mit offenen Händen den Segen zu nehmen und zu spenden, in den der tausendjährige Fluch verwandelt worden war. Und wie sie nun emporstieg, die
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