Im Bann des Fluchträgers
I
Die Quelle der Skaardja
Der Regen hatte Pony und Reiter überrascht, als sie schon fast in Sichtweite der Burg waren. Binnen weniger Augenblicke wurde der Wind zum Sturm und riss die herzförmigen Blätter der Jalabäume von den Ästen. Der Reiter zog seinen Mantel fester um die Schultern und die Kapuze tief ins Gesicht. Dann rief er »He!« und drückte dem Pony die Fersen in die Flanken. Es keuchte und stolperte bereits, als sie endlich den Waldrand erreichten.
Vor ihnen erstreckte sich ein Hügel, auf dem sich Gislans Burg erhob. An klaren Tagen schimmerten ihre Mauern wie Perlmutt, weshalb die Waldbewohner sie »Regenbogenburg« nannten. Unter dem wolkenverhangenen Himmel wirkte das Gemäuer jedoch steingrau und matt.
Vor dem Regen geschützt standen zwei Wachposten unter dem Bogen des Haupttores. Sie trugen Mäntel aus hellem Leder und stützten sich auf ihre Kampfspeere. Regungslos beobachteten sie den Reiter, der in kurzem Trab auf sie zuhielt.
»Sieht nicht aus, als käme er aus Tana«, sagte der Ältere.
»Wahrscheinlich ist es wieder einer der Waldleute aus den Lagern. Vergangene Nacht haben hier bereits mehrere vorgesprochen.«
Schlitternd kam das Pony vor ihnen zu stehen. Der Reiter sprang von seinem Rücken und knickte in den Knien ein, als seien seine Beine vom langen Ritt zu schwach. Er war zierlich und ging den Wachen gerade bis zur Schulter. Als er die Kapuze in den Nacken schob, sahen die Wachen ein feines, scharfgeschnittenes Gesicht, in dem die grünen Augen vor Übermüdung groß und glühend wirkten. Das braune Haar klebte nass an der Stirn. Der jüngere Wächter betrachtete den Ledersattel. Die eingeritzten Zeichnungen stellten mächtige Ranjögs mit schwarzen Hörnern dar. Das deutete darauf hin, dass tatsächlich ein Waldmensch vor ihnen stand, vielleicht ein Ranjögjäger, obwohl der Junge für eine so gefährliche Aufgabe eigentlich noch zu jung war.
»Ich muss zur Königin!«, sagte der Reiter ohne Umschweife. Der ältere Wachposten lachte.
»Das wollen viele. Du kommst zu einer ungünstigen Zeit.«
»Ich war eineinhalb Tage unterwegs und muss sofort zur Königin.«
»Wo kommst du her?«
»Aus dem Tjärgwald nordöstlich der alten Steinburg. Ich habe eine Botschaft.«
»Du bist sehr weit geritten. Was ist das für eine Botschaft?«
»Das kann ich nur der Königin selbst sagen«, erwiderte der Reiter. Seine Augen funkelten. »Sie kennt mich.«
Er streckte seine Hand vor und zeigte den Wächtern einen Silberring mit Gislans Siegel, dem Kopf eines Pferdes. Der ältere Wächter hörte auf zu lächeln und nahm Haltung an.
»Seid willkommen auf Gislans Burg, Herr. Geht in den Burghof und haltet Euch links – da kommt Ihr zu den Stallungen. Fragt dort den Stalljungen nach einem Nachtquartier. Aber erwartet nicht, dass Ihr eine schnelle Audienz erhaltet. Viele Waldleute warten bereits auf ein Gespräch mit der Königin und dem Rat.«
Der jüngere Wachposten öffnete das Tor.
Der Bote nahm sein Pony am Zügel, klopfte ihm beruhigend den Hals, als es scheute, und betrat den Burghof. Er war leer. Regen sammelte sich in unzähligen Hufabdrücken.
Flüchtig sah der Bote sie sich an. Es waren keine Pferde aus dem Tjärgwald, stellte er fest. Diese hier trugen Hufeisen, also mussten sie aus der bergigen Region mit hartem Boden gekommen sein, vielleicht aus Lom bei den Südbergen.
Ein Stalljunge kam ihm entgegengerannt.
»Willkommen auf Gislans Burg!«, rief er und machte eine atemlose Verbeugung. »Steht nicht im Regen herum, kommt in den Stall! Ich werde einen Diener rufen.«
Ein Blitz zuckte über den Himmel, das Pony schrak zusammen, doch es ließ sich in den Stall führen. Wärme und der Duft von Stroh schlugen ihnen
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