23 - Im Reiche des silbernen Löwen IV
nicht gedruckt, sondern geschrieben, also Manuskript.
Auf dem Titelblatte las ich: ‚Mein Leidensweg‘. Ich war enttäuscht, ja sogar sehr enttäuscht!
„Deine Biographie?“ fragte ich.
„Ja“, antwortete er.
„Vielleicht gar deine Rechtfertigung?“
„Gewiß! Das war ich mir doch schuldig!“
„Wehe dir, Ustad, wenn du dir noch etwas schuldig bist!“
„Wie streng das klingt! Und wie ernst du mich dabei anschaust, Effendi! So will ich mich anders ausdrücken: das war ich meinen Feinden schuldig der Welt, die mich von sich gestoßen hat!“
Da hob ich warnend die Hand und sprach:
„Wenn dich die Welt aus ihren Toren stößt,
So gehe ruhig fort, und laß das Klagen,
Sie hat durch die Verstoßung dich erlöst
Und darum deine ganze Schuld zu tragen!
Wenn du Geist bist, wirklich Geist, so wirst du diese Worte verstehen und ihre Wahrheit so in dich atmen, daß sie dir zur Auferstehung werden muß und werden wird. Lazare, ich sage dir, komm heraus!“
Da wurden seine Augen groß und immer größer. Er hob seine beiden Hände empor, bis in die Nähe der Stirn, als ob er dort einen Gedanken fassen und festhalten wolle, und sagte:
„Was tritt jetzt an mich heran? Wer ist das? Wen gibst du mir? Ich sehe nichts. Ich höre nichts. Und doch sehe, höre und fühle ich etwas Wunderbares, etwas unendlich Beglückendes! Ich empfinde es deutlich, daß ich frei werde! Ist es etwas Geistiges? Etwas Seelisches?“
Da antwortete ich:
„Gib mir dein Herz! Ich will's zum Himmel tragen.
Von Gott gesegnet, bring ich dir's zurück.
Dann soll's nur noch im Himmelspulse schlagen,
Zu deinem und wohl auch zu meinem Glück!
Ustad, halte diese Worte fest! Laß sie dir nicht entweichen!“
Er schloß die Augen, als ob das, was in ihm vorging von außen nicht gestört werden solle, trat langsamen Schrittes, ohne etwas zu sagen, zum offenen Fenster und lehnte sich hinaus. Ich hatte das Buch ‚Mein Leidensweg‘ noch in der Hand und begann darin zu blättern, doch ohne eigentlich zu lesen. Verschiedene Sätze, welche unterstrichen waren, fielen mir auf. Bei diesen verweilte ich. Ja, sie waren ‚Flamme‘. Es glühte und flackerte in ihnen ein Zorn, welcher versengend war. Das Buch schloß auf der vorletzten Seite mit einem Gedicht. Dieses lautete:
„Ich kam zu dir am Hosiannatag
Und sah dich im Triumph durch Salem reiten,
Doch auch schon alles, was noch vor dir lag
Sah hinter dir ich im Gefolge schreiten.
Da wendete ich mich zur Klagemauer
Und stand mit heißer Stirn am kalten Stein.
In deinen Jubel warf ich meine Trauer,
Denn mit dir zog ja auch dein Judas ein.
Ich kam zu dir am Eli-lama-Tag
Und sah dein Haupt im Todesschmerz sich senken.
Doch als dein Mund das Asabthani sprach,
Mußt schon ich an das nahe Ostern denken.
Du warst ja einst auf jenen Berg gestiegen,
Den man als Stätte der Verklärung preist,
Und mußtest beide, Grab und Tod, besiegen
In deiner Kraft als erdenfreier Geist.
Nun komme ich zum Auferstehungstag
Und sage dir: die Steine sind verschwunden.
Die Jünger sahen früh im Grabe nach
Und haben deinen Leichnam nicht gefunden.
Soll wohl der Geist hier in der Gruft verbleiben,
Wo doch der Körper längst schon auferstand?
Steh auf, steh auf! Es gibt noch viel zu schreiben,
Jedoch von jetzt nur mit – – – der Geisterhand!“
Ich las es noch einmal und dann zum dritten Male. Welch ein Gedicht! Ich meine nicht etwa den künstlerischen Wert desselben. Der ging und geht mich gar nichts an. Es war nicht die Form, sondern es war der Geist, der vor mir stand. Ich sah ihn deutlich, mit allem, was ich loben konnte, und auch mit allem, was ich an ihm tadeln mußte. Der Mann, der diese Zeilen geschrieben hatte, war aber unbedingt auch körperlich in Jerusalem gewesen. Ich sah ihn durch das Jaffator kommen und geradeaus auf jenem Stufenweg schreiten, welcher hinab nach dem ‚Heiligtum‘ führt. Aber dorthin wollte er gar nicht, sondern er bog nach links, in die engen Bazare, die auf das Tor von Damaskus münden. Dort wandte er sich rechts, dem ‚Leidensweg‘ zu, hinauf nach Golgatha, dessen Stätte ein Gegenstand der Phantasie geworden ist, weil man die rechte Stelle nicht mehr kennt. Im tiefen Winkel liegt die ‚Klagemauer‘. Hier hörte man die wahre Sehnsucht einst nach der Erlösung rufen. Jetzt aber kratzt man sich dort am Gestein die Finger blutig wund, nur um ein karges Bakschisch (Geschenk, Bettlergabe) zu erhalten. So geht überall, nicht bloß im heiligen Jerusalem, die Menschheitsseele
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