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23 Lügen, die sie uns über den Kapitalismus erzählen (German Edition)

23 Lügen, die sie uns über den Kapitalismus erzählen (German Edition)

Titel: 23 Lügen, die sie uns über den Kapitalismus erzählen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ha-Joon Chang
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hätten die für ihre Transparenz berühmten skandinavischen Länder Anfang der Neunzigerjahre keine Finanzkrise erlebt. Solange wir »finanzielle Innovationen« weiterhin unbeschränkt zulassen, wird unser Einfallsreichtum stets über unsere Regulierungsmöglichkeiten triumphieren.
    Wenn wir eine weitere Krise wie die globale Finanzkrise des Jahres 2008 ernsthaft vermeiden wollen, sollten wir Derivate (und andere komplexe finanzielle Instrumente) schlicht verbieten, solange nicht unstrittig erwiesen ist, dass sie der Gesellschaft lang fristig nutzen. Dieser Gedanke wird einigen unerhört erscheinen. Doch das ist er nicht. Mit anderen Produkten verfahren wir die ganze Zeit auf diese Weise – denken Sie nur an die Sicherheitsbestimmungen für Lebensmittel, Medikamente, Automobile und Flugzeuge. Das Ergebnis wäre ein Zulassungsverfahren, in welchem sich die langfristigen Risiken und Nutzen jedes neuen Finanzprodukts, das die »Raketenforscher« der Finanzfirmen ausbrüteten, für unser System als Ganzes abschätzen ließen – und nicht nur die kurzfristigen Gewinnchancen für diese Firmen.

    Drittens: Wir sollten anerkennen, dass wir keine selbstlosen Engel sind, und ein System erschaffen, welches das Beste – und nicht das Schlechteste – im Menschen hervorbringt .
    Die marktliberale Ideologie wurzelt in dem Glauben, dass die Menschen nichts »Gutes« tun, wenn sie dafür nicht bezahlt oder bei Unterlassung bestraft werden. Dieser Glaube drückt sich in einem asymmetrischen Weltbild aus, dass reiche Leute durch das Versprechen größerer Reichtümer zur Arbeit motiviert werden müssen, während arme Leute nur durch die Angst vor größerer Armut zu motivieren sind.
    Materielles Eigeninteresse ist eine starke Motivation. Das kommunistische System erwies sich als nicht praktikabel, weil es diesen menschlichen Antrieb ignorierte oder, besser: ihn verleugnen wollte. Dies beweist jedoch nicht, dass materielles Eigeninteresse unser einziges Motiv ist. Die Menschen sind nicht so stark vom materiellen Eigeninteresse getrieben, wie es in den Lehrbüchern zur freien Marktwirtschaft steht. Wäre die Welt voll rationaler Egoisten, wie in diesen Büchern dargestellt, würde sie unter der Last ständigen Betrügens, Überwachens, Bestrafens und Feilschens zusammenbrechen.
    Durch die Glorifizierung des Eigeninteresses von Einzelnen und Unternehmen haben wir außerdem eine Welt geschaffen, in der materielle Bereicherung Einzelne und Unternehmen von den anderen Verantwortlichkeiten gegenüber der Gesellschaft entbindet. In diesem Prozess haben wir unseren Bankern und Fondsmanagern direkt oder indirekt gestattet, in ihrem Streben nach persönlicher Bereicherung Arbeitsplätze zu vernichten, Fabriken zu schließen, die Umwelt zu verschmutzen und das Finanzsystem selbst zu ruinieren. Wenn wir vermeiden wollen, dass sich so etwas noch einmal ereignet, sollten wir ein System schaffen, in dem die materielle Bereicherung zwar einen wichtigen Platz einnimmt, aber nicht zum alleinigen Ziel werden darf.
    Es handelt sich hier nicht nur um eine moralische Frage, sondern auch um einen Appell an das aufgeklärte Eigeninteresse. Wenn wir ein kurzfristiges Eigeninteresse alles bestimmen lassen, können wir damit das komplette System zerstören. Langfristig wäre dadurch niemandem gedient.

    Viertens: Wir sollten uns von dem Glauben verabschieden, dass die Menschen immer bekommen, was sie »verdienen«.
    Menschen aus armen Ländern sind, für sich betrachtet, oft produktiver und erfinderischer als ihre Mitmenschen in den reichen Ländern. Wenn man ihnen Chancengleichheit gewährte und die Grenzen öffnete, könnten und würden diese Menschen in den reichen Ländern einen Großteil der Arbeitskräfte ersetzen, was freilich politisch unerwünscht und inakzeptabel wäre. Es sind also ihre von den reichen Ländern kontrollierten nationalen Volkswirtschaften und nicht ihre mangelnden persönlichen Fähigkeiten, die bewirken, dass die Armen in den armen Ländern arm bleiben.
    Wenn man darauf verweist, dass viele Menschen arm bleiben, weil sie nicht die gleichen Chancen haben, heißt das umgekehrt nicht, dass sie es verdienen, arm zu bleiben, wenn ihnen die gleichen Möglichkeiten offen gestanden haben. Solange es nicht eine gewisse Ergebnisgleichheit gibt, damit beispielsweise Kinder mehr als nur ein Minimum an Ernährung und elterlicher Fürsorge erhalten, kann die am Markt gegebene Chancengleichheit keinen wirklich fairen Wettbewerb garantieren. Es

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