23 Lügen, die sie uns über den Kapitalismus erzählen (German Edition)
an die Armen umverteilt, sei schlecht für das Wirtschaftswachstum, weil er die Industriellen demotiviere und die unteren Schichten faul mache. Wenn ein schwacher Staat aber gut für das Wirtschaftswachstum wäre, müssten viele Entwicklungsländer, in denen sich der Staat wirtschaftlich zurückhält, wesentlich besser dastehen. Dies ist ganz offensichtlich nicht der Fall. In Skandinavien wiederum existiert ein großer Wohlfahrtsstaat neben einem gesunden Wirtschaftswachstum und hat dieses teilweise sogar gefördert. Auch diese Beispiele zeigen die Grenzen des Irrglaubens auf, ein schwacher Staat sei grundsätzlich besser für das Wachstum.
Außerdem wollten uns die Marktliberalen weismachen, ein aktiver Staat (oder intrusiver Staat, wie sie gern sagen) sei schlecht für das Wirtschaftswachstum. Entgegen der allgemeinen Auffassung sind aber praktisch sämtliche der heutigen reichen Länder erst durch staatliche Intervention reich geworden. Wohldurchdacht und richtig angewandt, kann staatliche Intervention die wirtschaftliche Dynamik erhöhen, indem sie Faktoren stärkt, für die der Markt selbst nur ungenügend sorgt (etwa Forschung und Ausbildung), Risiken bei Projekten mit großem gesellschaftlichem Nutzen, aber geringem privatwirtschaftlichem Ertrag fördert und in Entwicklungsländern jungen Firmen in aufblühenden Industriezweigen den notwendigen Spielraum bietet, um ihre Kapazitäten voll zu entfalten.
Wir müssen die Frage, wie der Staat zum Schlüsselelement eines dynamischeren, stabileren und gerechteren Wirtschaftssystems werden kann, kreativer angehen. Das bedeutet, dass wir einen besseren Wohlfahrtsstaat, ein besseres Regulierungssystem (insbesondere im Finanzwesen) und eine bessere Industriepolitik brauchen.
Achtens: Das Weltwirtschaftssystem muss die Entwicklungsländer »unfairerweise« bevorzugen.
Bedingt durch die demokratische Kontrolle, ist es den Marktliberalen in den meisten reichen Ländern schwergefallen, eine konsequent liberale Marktreform durchzuführen. Sogar für Margaret Thatcher kam es nicht infrage, das britische Gesundheitssystem auszuhöhlen. Folglich standen in erster Linie die Entwicklungsländer im Fokus marktliberaler Experimentierwut.
Vor allem in Afrika und Lateinamerika mussten viele ärmere Länder zwangsweise eine liberale Marktpolitik einführen, wenn sie von internationalen Organisationen mit einem Faible für die freie Marktwirtschaft (etwa dem IWF und der Weltbank) oder den Regierungen reicher Länder Geld leihen wollten. (Zudem werden IWF und Weltbank schlussendlich von diesen Ländern kontrolliert.) In den schwachen Demokratien der Entwicklungsländer ließ sich die liberale Marktpolitik viel rücksichtsloser umsetzen, also auch dann, wenn viele Menschen dabei Schaden nahmen. Diese Tendenz wurde in den vergangenen Jahrzehnten durch die Gründung oder Stärkung von Organisationen wie der Welthandelsorganisation (WTO), dem BIS (Bureau of Industry and Security des US-Wirtschaftsministeriums) sowie verschiedener bilateraler und regionaler Freihandels- und Investitionsabkommen gefördert. Die globalen Regeln, was eine Regierung unternehmen kann, um die eigene Volkswirtschaft zu schützen und zu entwickeln (besonders wichtig in den Entwicklungsländern), wurden so weiter festgeschrieben. Das Ergebnis war, dass die freie Marktwirtschaft in den Entwicklungsländern wesentlich rigoroser umgesetzt wurde – mit den entsprechend negativen Folgen für Wachstum, Stabilität und soziale Gerechtigkeit.
Das Weltwirtschaftssystem muss komplett überholt werden. Die Entwicklungsländer benötigen einen größeren politischen Spielraum, um eine für sie geeignete Wirtschaftspolitik verfolgen zu können (die reichen Länder verfügen über breit gefächerte Möglichkeiten, internationale Regeln zu beugen oder sogar zu ignorieren). Unter anderem betrifft dies Fragen des Protektionismus, der Regulierung ausländischer Investitionen und der Verwertung geistigen Eigentums. In genau diesen Punkten betrieben die heute reichen Länder eine sehr flexible Politik, als sie selbst noch zu den Entwicklungsländern zählten. All das erfordert eine Reform der WTO, die Abschaffung oder Reform bestehender bilateraler Handels- und Investitionsabkommen und einen Wandel der politischen Konditionen, die an Kredite internationaler Organisationen und die Entwicklungshilfe aus reichen Ländern geknüpft sind.
Freilich werden die Entwicklungsländer durch solche Maßnahmen »unfairerweise bevorzugt«, wie
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