23 Lügen, die sie uns über den Kapitalismus erzählen (German Edition)
Nicht zuletzt machten sie uns beharrlich glauben, dass die von vielen Menschen auf dieser Welt als unerwünscht empfundenen wirtschaftlichen Resultate in Wahrheit unvermeidlich seien. Wachsende Ungleichheit (siehe Nr. 13), schwindelerregende Managergehälter (siehe Nr. 14) oder die extreme Armut in armen Ländern (siehe Nr. 15) etwa seien ein Produkt der (egoistischen und rationalen) Natur des Menschen und der Notwendigkeit, Menschen gemäß ihres produktiven Beitrags zu entlohnen.
Mit anderen Worten: Die Wirtschaftswissenschaften sind schlimmer als irrelevant. Die Wirtschaftslehre, die in den letzten drei Jahrzehnten praktiziert worden ist, hat den meisten Menschen definitiv geschadet.
Was ist mit den »anderen« Ökonomen?
Wenn die Wirtschaftswissenschaften so schlimm sind, wie ich es darstelle, warum arbeite ich dann als Wirtschaftswissenschaftler? Wenn Irrelevanz noch die mildeste Folge meines beruflichen Schaffens ist, die Wahrscheinlichkeit, anderen Schaden zuzufügen, jedoch wesentlich größer, sollte ich dann nicht lieber meinen Beruf wechseln und als Elektriker oder Klempner arbeiten, um der Gesellschaft besser zu dienen?
Ich bleibe bei den Wirtschaftswissenschaften, weil ich glaube, dass sie nicht nutzlos oder schädlich sein müssen. Schließlich habe ich in diesem Buch versucht, mit wirtschaftswissenschaftlichem Instrumentarium zu erklären, wie der Kapitalismus wirklich funktioniert. Es ist eine ganz besondere Art von Wirtschaftswissenschaften, die so gefährlich ist – und zwar der Marktliberalismus, der während der letzten Jahrzehnte gepredigt worden ist. In der Geschichte hat es hingegen viele Schulen ökonomischen Denkens gegeben, die uns geholfen haben, unsere Volkswirtschaften besser zu managen und zu entwickeln.
Wenn wir von unserer heutigen Warte ausgehen, dann wurde die Weltwirtschaft im Herbst 2008 durch die Lehren von John Maynard Keynes, Charles Kindleberger (dem Autor des Klassikers zum Thema Finanzkrise, Manien, Paniken, Crashs ) und Hyman Minsky (einem völlig unterbewerteten amerikanischen Finanzkrisenexperten) vor einem Totalzusammenbruch bewahrt. Die Weltwirtschaft hat deshalb keine Neuauflage der großen Depression von 1929 erlebt, weil wir aus dieser gelernt und den Schlüsselinstitutionen aus der Klemme geholfen haben (wenngleich wir die für dieses Chaos verantwortlichen Banker immer noch nicht richtig bestraft und auch die Industrie noch nicht reformiert haben). Die Regierungsausgaben wurden erhöht, Einlagensicherungen garantiert, der Wohlfahrtsstaat erhalten (der den Arbeitslosen ein gewisses Einkommen sicherte) und der Finanzmarkt in einem nie gekannten Umfang mit frischem Geld versorgt. Die Welt konnte also noch einmal gerettet werden. Wie ich bereits an früherer Stelle in diesem Buch dargelegt habe, handelt es sich bei vielen dieser Maßnahmen aber um genau jene, die von marktliberalen Wirtschaftsexperten seit jeher abgelehnt werden.
Auch wenn die Wirtschaftsfunktionäre Ostasiens keine studierten Wirtschaftswissenschaftler waren, so verstanden sie doch ein wenig von Wirtschaft. Insbesondere vor 1970 hatten ihre wirtschaftswissenschaftlichen Kenntnisse allerdings kaum etwas mit Marktliberalismus zu tun. Was sie wussten, stammte von Karl Marx, Friedrich List, Joseph Schumpeter, Nicolas Kaldor und Albert Hirschmann. Diese Vordenker lebten freilich zu einer ganz anderen Zeit mit völlig anderen Problemen und vertraten radikal unterschiedliche politische Standpunkte – die Bandbreite reicht von List am äußersten rechten und Marx am äußersten linken Ende des Spektrums. Ihre wirtschaftlichen Auffassungen verband jedoch eine Gemeinsamkeit: Der Kapitalismus, so erkannten sie, entwickelt sich durch Langzeitinvestitionen und technologische Innovationen, welche die gesamte Produktionsstruktur verändern und nicht nur bestehende Strukturen erweitern, als bliese man einen Ballon auf. Vieles, was die ostasiatischen Wirtschaftsfunktionäre in den Wirtschaftswunderjahren taten, entsprang solchen wirtschaftlichen Ansätzen und nicht etwa einer marktliberalen Sicht (siehe Nr. 7) – etwa der Schutz neuer Industriezweige, die gewaltsame Umverteilung von Ressourcen vom technologisch stagnierenden Agrarsektor auf den dynamischen Industriesektor und die Nutzung der von Hirschmann angesprochenen Verbindungen zwischen den einzelnen Sektoren. Hätten die ostasiatischen Länder und auch die meisten reichen Länder Europas und Nordamerikas zuvor ihre Volkswirtschaften strikt nach dem
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