230 - Gilam'esh'gad
ahnen, dass der Herrscherpalast von Honuulu ihre Endstation sein würde – oder eher die Küche des Palastes.
Die See war ruhig, und Matrose Fulong hatte nichts zu tun. Er stand an Deck und genoss den Sonnenuntergang, eine Hand auf der Reling, in der anderen ein Opiumpfeifchen. Verträumt sah er den sich kräuselnden Rauchfäden zu, wie sie vom Wind erfasst wurden und davon trieben, der weit entfernten Küste entgegen.
Nehmt mich mit nach Hause!, rief Fulong in Gedanken hinter ihnen her.
Zuhause, das war sein Quartier in Tschiang, dem Heimathafen der Baq Wan. Es war ärmlich und klein, doch seit seine Geliebte dort auf ihn wartete, erschien es Fulong wie ein Palast. Min Yi brachte alles zum Glänzen mit ihrer Schönheit, ihren klugen Worten, ihrem Lachen. Nur für sie hatte Fulong auf dem Schiff angeheuert. Damit er sie heiraten konnte.
Fulong verstand nichts von der Seefahrt. Er war eigentlich Lastenträger von Beruf und arbeitete im Hafen, beim Entladen der Boote. Das reichte für ein bescheidenes Leben. Aber wer eine Familie gründen wollte, brauchte Rücklagen, und die bekam man am ehesten auf einem Handelsschiff zusammen. Besonders wenn es die gefährliche Route von den Philippinen nach Hawaii befuhr, wo auf den ersten hundert Seemeilen jeder zweite Mast, der am Horizont erschien, eine Piratenflagge trug, und auch die weitere Fahrt über die weite, offene See ein Risiko war.
Fulong nahm einen weiteren Zug aus seiner Pfeife. Dann stutzte er. Es war mit einem Mal so still. Er lauschte. Seit Beginn der Reise war aus dem nach oben offenen Frachtraum das stetige Grunzen und Quieken der Piigs gedrungen, so beständig, dass man es inzwischen kaum mehr wahrnahm. Jetzt lastete die plötzliche Ruhe doppelt schwer auf dem Schiff.
Fulong zog die Brauen zusammen. Was war los? Waren die Tiere krank? Strichen etwa böse Geister um das Schiff? Der junge Mann sah sich um.
Weit draußen im Abendrot, Richtung Westen, war mit einem Mal Land zu sehen. Mitten auf dem Ozean? Fulong nahm die Hand von der Reling, beschattete seine Augen, musterte die dunkle Erhebung. Wind sprang auf, und Fulong runzelte die Stirn. Ihm war, als käme das Land hinter der Baq Wan her. Mit dem Wind. Rasend schnell.
»Bei allen Göttern!«, flüsterte Fulong entsetzt, als er die Schaumkronen erkannte, und sein Herz sank. Das war kein Land! Es war eine einzelne, gigantische Welle.
***
Marianengraben, eine Stunde zuvor
Elftausend Meter unter der Baq Wan und viele Meilen weiter westlich lenkte Commander Matthew Drax seine Transportqualle durch ein verlassenes Viertel von Gilam’esh’gad, der Stadt am Grunde des Marianengrabens. Gestern war Matt nach gründlicher Vorbereitung und dem Studium des Quallen-Prototyps aufgebrochen, um Kurs zu nehmen in die finsteren Eingeweide Gilam’esh’gads.
Warum tue ich das eigentlich?, fuhr es ihm durch den Sinn.
Aber die Antwort war keine andere als bisher.
Vor drei Wochen hatte er mit Aruula und Quart’ol den uralten hydritischen Wächter aufgesucht, der die Kammer der Macht im Stadtzentrum bewohnte. [1]
Matt wollte ihn nach einer Waffenanlage aus der Zeit Pozai’dons des Zweiten befragen. Sie lag irgendwo in der Antarktis und war, falls sie noch funktionierte, brandgefährlich.
Flächenräumer hieß sie laut der Aufzeichnungen der Hydree, die Quart’ol im Stadtarchiv gefunden hatte. Der Name war Programm! Nach den blumig formulierten Überlieferungen konnte man mit dieser Waffe an jedem beliebigen Punkt der Welt die Feinde mitsamt ihren Behausungen, sogar mit dem Grund, den ihre unwürdigen Füße berührten, aus der Zeit der Guten und Gerechten entfernen. Eine Art Zeitmaschine also, basierend auf dem Zeitstrahl der Hydree, der als Waffe eingesetzt wurde? Der weitere Text ließ es vermuten, denn weder Verwüstung noch Leichen sollte der Flächenräumer zurücklassen. Ja, der Feind würde nicht einmal merken, dass er verloren war in einer fernen Zeit. Gruselig…
Quart’ol hatte Matt einen Datenkristall gegeben, der Informationen über den Flächenräumer enthielt – seinen Standort verrieten sie jedoch nicht. Deshalb, und weil die beiden Freunde sich einig waren, dass etwas derart Mächtiges unter keinen Umständen in falsche Hände geraten durfte, hatte Matt darauf gedrängt, den Wächter zu besuchen. Genutzt hatte es wenig. Ich war so davon überzeugt, dass er kooperieren würde, dachte Matthew verärgert, während seine Transportqualle immer tiefer in die verwunschene Unterwasserlandschaft
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