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2312

2312

Titel: 2312 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kim Stanley Robinson
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»Wir sind die Nachtläufer von Bengal, eine sehr wichtige Arbeit«, übersetzte Kirans Brille laut, was dem Sprecher, der anscheinend Englisch verstand, ein Lächeln entlockte. Die Brille hatte wohl etwas Lustiges gesagt, aber Kiran wusste nicht, was. »Erzähl mir mehr«, sagte er hastig, und der oder die Kleine führte ihn zu einer nahe gelegenen Bar.
    Kexue (Wissenschaft) setzte sich auf die Theke, während Kiran sich auf einem Stuhl niederließ, und für ein paar Stunden lauschte Kiran den Geschichten, die ihm seine Brille ins Ohr murmelte, Geschichten, die für ihn wenig Sinn ergaben, aber trotzdem interessant waren. Sie waren Teil eines Projekts, Lakshmi war eine Göttin, Wissenschaft hatte ihr einmal den Fuß geküsst und seiner bescheidenen Existenz dabei beinahe durch einen Elektroschock ein Ende gesetzt; man konnte die Götter nicht berühren, sondern ihnen nur gehorchen. Als sich ihre Wege trennten, erhielt Kiran Kexues Nummer und das Versprechen, dass sie sich mal wieder treffen würden.
    Seine Rückreise nach Colette, bei der er ein weiteres Päckchen dabeihatte, sollte diesmal am Boden stattfinden, in einem eigens dafür vorgesehenen Geländewagen. Er stellte fest, dass er an Bord dieses massiven, sechsrädrigen Fahrzeugs bestenfalls ehrenhalber der Fahrer war, da es von einer KI gesteuert wurde. Ziemlich schnell surrte es über eine Straße aus zertrümmertem Felsgestein und festgedrücktem Kies und überholte dabei mit geschickten Spurwechseln gewaltige Minenfahrzeuge. Kiran hatte den Eindruck, dass das Passagierabteil sich von dem Gewicht im Laderaum nach hinten neigte. Man hatte ihm nicht gesagt, worum es sich bei der Ladung handelte, aber auf den Armaturen tickte ein Dosimeter gleichmäßig vor sich hin. Vielleicht Uran? Das Päckchen, das Kexue ihm gegeben hatte, war nicht versiegelt, und so schaute er hinein, in der Hoffnung, dass man ihm dabei nicht im Nachhinein auf die Schliche kommen konnte. Er stellte fest, dass er einen Stoß handschriftlicher Aufzeichnungen beförderte. Die chinesischen Buchstaben sahen aus wie die Kalligrafie eines Betrunkenen und waren von kleinen, skizzenhaften Vogel- und Tierzeichnungen umgeben. Seine Brillengläser legten rote Buchstaben über die Schriftzeichen:
    Nur der, der Augen hat, kann sehen.
    Bei großen Unternehmungen ist selbst das Scheitern ruhmvoll.
    Das sah für ihn nach einem Code aus. Ob die Nachricht persönlicher oder offizieller Natur, wichtig oder nebensächlich war, wusste er nicht. Kirans Brille hatte einige von Kexues Worten dahingehend übersetzt, dass Lakshmi gezwungen wäre, sich an nichts als eine Stimme in ihrem Ohr zu halten, wenn sie sowohl Shukra als auch die Qubes umgehen wollte. Vielleicht hatten diese Aufzeichnungen damit zu tun. Kexue hatte gesagt, dass die Lage ganz oben sehr, sehr undurchsichtig wäre.
    »Wie in China?«, hatte Kiran gefragt.
    »Nein«, hatte Kexue geantwortet, »nicht wie in China.«
    Zurück in Colette überreichte Kiran das Päckchen der Person, die schon beim ersten Mal vor der Tür seiner Unterkunft gewartet hatte, um sich anschließend wieder seinem Trupp anzuschließen und ein paar Wochen auf dem Eis zu verbringen. Dann erhielt er erneut einen Anruf von Lakshmi und flog nach Kleopatra, um ein weiteres Päckchen abzuholen. So lief das viele Male, ohne dass sich die einzelnen Aufträge groß voneinander unterschieden. Da Kiran weiter bei seinem Trupp in Colette wohnte und auf die eine oder andere Art für Shukra arbeitete, hatte er den Verdacht, dass er versehentlich zu einer Art Maulwurf oder Doppelagent geworden war, aber sicher sein konnte er sich nicht. Er würde Swan zu seiner Verteidigung anrufen müssen, falls er jemanden verärgerte. Eines Tages fand er beim Aufsetzen seiner Übersetzungsbrille durch Zufall heraus, dass sie auch gesprochenes Chinesisch mit schwebenden roten Schriftzeichen übersetzte, und nicht nur geschriebene Ideogramme. Das war eine tolle Entdeckung, die ihm half, schneller zu lernen und sich dabei nicht auszuklinken. Die sichtbare Welt war nun überall rot beschriftet – einerseits konnte einen das gehörig durcheinanderbringen, andererseits war es angenehm, dass ihm endlich mal alles erklärt wurde. Von nun an trug er die Brille fast immer.
    So transportierte er Päckchen und gelegentlich einen radioaktiven Geländewagen über Ishtars Rückgrat hin und her. Mit einem Blick auf die Landkarte sah Kiran, dass das riesige Hochplateau, das die westliche Hälfte Ishtars beherrschte

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