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sie haben mich intravenös ernährt. Sie hatten mich – ich meine, ich habe alles ausgeplaudert! Und viele ihrer Fragen gingen um Alex. Es kann gut sein, dass ich ihnen alles erzählt habe, was ich über sie weiß!«
»Hmm.« Ein ausgedehntes Schweigen schloss sich an. »Tja, dann weißt du jetzt, warum Alex so viel für sich behalten hat.«
»Und wer waren sie?«
»Ich weiß es nicht. Vielleicht gehören sie zur chinesischen Regierung. Die fasst einen manchmal grob an. Obwohl mir das hier dann doch zu unerhört erscheint. Vielleicht war es eine Warnung, aber ich bin mir nicht sicher, wovor. Insofern hätte es sich um keine besonders wirkungsvolle Warnung gehandelt. Oder vielleicht war es einfach nur ein Fischzug. Oder ein Hinweis darauf, dass wir uns nicht auf der Erde herumtreiben sollen.«
»Als ob wir das nicht selber wüssten.«
»Du scheinst es nicht zu wissen. Vielleicht wollen sie ja nicht, dass du dich hier unten herumtreibst.«
»Aber wer?«
»Ich weiß es nicht! Geh einfach davon aus, dass die Erdenmenschen dir etwas mitteilen wollten. Und ruf Genette an. Und komm bitte her, und rede mit mir, bevor du noch mehr Probleme kriegst.«
Also rief Swan bei Inspektor Genette an. Genette war entsetzt über ihr Erlebnis. »Vielleicht sollten Pauline und Passepartout ständig miteinander in Verbindung bleiben, solange wir auf der Erde sind. Dann würde ich immer mitbekommen, wo du dich gerade aufhältst.«
»Aber du sagst doch dauernd, dass wir sie abschalten sollen!«, erwiderte Swan.
»Nicht hier. In dieser Situation können sie uns helfen.«
»Na schön«, sagte Swan. »Besser, als mit Leibwächtern unterwegs zu sein.«
»Es bietet allerdings auch nicht annähernd so viel Schutz. Du solltest wenigstens nicht alleine reisen.«
»Ich besuche Zasha in Grönland, da müsste es sicher sein.«
»Gut. Du solltest aus China verschwinden.«
»Aber ich bin Chinesin!«
»Du bist eine Merkurianerin chinesischer Herkunft. Das ist etwas völlig anderes. Interplan hat kein Abkommen mit China, also kann ich dir rechtlich gesehen nicht helfen, solange du dich dort aufhältst. Geh nach Grönland.«
Stur, wie sie war, ging sie abends trotzdem zum Nudelessen aus. Die Leute bedachten sie mit seltsamen Blicken. Sie war eine Fremde in einem fremden Land. Von den Bildschirmen in den Nudelimbissen hörte sie mehrere feurige Reden, in denen verschiedene politische Verbrechen von Den Haag, Brüssel, den UN, dem Mars und von Raumern im Allgemeinen verurteilt wurden. Manche Sprecher gerieten so sehr in Rage, dass Swan ihr Bild von der chinesischen Gelassenheit revidieren musste; politisch gesehen waren sie nicht weniger leidenschaftlich als alle anderen auch, ganz egal, wie nach innen gekehrt sie auf der Straße wirkten. Wie jede Gruppe waren sie vom Zeitgeist geformt, und man hatte ihnen Feindbilder vorgesetzt, die ihre Unzufriedenheit von Peking ablenkte. Vielleicht eignete der Weltraum sich einfach besonders gut als rotes Tuch. Swan lauschte den Reden aufmerksam, ohne die Männer im Imbiss zu beachten, die wiederum sie beobachteten. Die Vorstellung, Raumer würden mehr noch als die alten Kolonialmächte ein Leben in Dekadenz und Luxus führen, war in China weit verbreitet, so begriff sie jetzt. Und ihr wurde klar, dass die Menschen in Hangzhou wie Ratten im Labyrinth lebten und sich Tag für Tag bei jeder Bewegung aneinanderrieben. Das Potenzial für extremistisches Gedankengut war offenkundig. Warum sollte man das Haus des reichen Jungen nicht mit Steinen bewerfen? Wer würde das nicht tun?
Während der Flüge, die sie zu Zasha brachten, sah Swan auf ihrem Monitor die Nachrichten. Erde Erde Erde. Der Weltraum war den meisten hier piepegal. Manche hingen religiösen Glaubensbekenntnissen an, die bereit im 12. Jahrhundert rückschrittlich gewesen waren. Die Viehhirten unter ihr in Zentralasien bewirtschafteten ihre Herden wie die Ökologieexperten, die sie sein mussten, um mit ihrer Produktion die Nachfrage zu erfüllen; jede Weide war gleichzeitig Molkerei, Schlachthof und Substratfabrik, und ihren Besitzern stand der Groll über die Dürreperioden, die von weit entfernten reichen Leuten ausgelöst wurden, bis zum Hals. Hier und dort sah sie die großen Ballungsgebiete, Barackenstädte, die entweder in Staubmulden lagen oder unter dem Ansturm tropischer Regenfälle und Schlammlawinen auseinanderfielen, und deren verkrüppelte Bewohner voll und ganz damit beschäftigt waren, am Leben zu bleiben. In Tschad hatte sie klare
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