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Anzeichen für schweren Parasitenbefall gesehen, zudem Hunger, Krankheiten und vorzeitigen Tod. Verschwendetes Leben in verödeten Biomen. Drei von elf Milliarden Planetenbewohnern, deren Grundbedürfnisse nicht erfüllt wurden. Drei Milliarden waren ohnehin schon eine Menge, aber dazu kamen noch weitere fünf oder sechs Milliarden am Rande des Abgrunds, kurz davor, ins selbe Loch abzurutschen, ohne einen einzigen sorgenfreien Tag. Das große Prekariat, gut genug vernetzt, um sich voll über seine Lage im Klaren zu sein.
Das war das Leben auf der Erde. Zersplittert, fraktioniert, nach Kasten oder Klassen unterteilt. Die Reichsten lebten wie Raumer im Sabbatjahr, mobil und vielseitig interessiert, verwirklichten sich auf jede nur denkbare Art, verbesserten sich – genderten sich – differenzierten sich aus – schlugen mit ihren verlängerten Lebensspannen dem Tod ein Schnippchen. Tatsächlich schienen ganze Länder so zu leben, aber es waren kleine Länder – Norwegen, Finnland, Chile, Australien, Schottland, Kalifornien, die Schweiz; und noch ein paar Dutzend mehr. Dann gab es die Länder, die sich mit Mühe über Wasser hielten; und dann gab es die postnationalen Flickenteppiche, die notdürftigen Versuche, nicht völlig zusammenzubrechen, und diejenigen, bei denen das Totalversagen bereits eingetreten war.
Überall auf der Welt hatte man dem Anstieg des Meeresspiegels um elf Meter Rechnung getragen, indem man massenhaft in höher gelegenen Gebieten gebaut hatte, aber trotzdem hatte er großes menschliches Leid verursacht, und niemand wollte das Gleiche noch einmal durchmachen. Die Leute waren das Ansteigen des Meeresspiegels leid. Wie sehr sie die Generation des Schwankens verachteten, die so rücksichtslos den Klimawandel in Gang gesetzt hatten, der nicht nur bis heute anhielt, sondern noch Jahrhunderte fortdauern würde, in deren Verlauf Methanklathratausbrüche und Permafrostschmelze weitere Treibhausgase ausstoßen würden, die bislang dritte und wahrscheinlich größte Welle. Sie waren auf dem besten Weg, ein Dschungelplanet zu werden, und die Aussicht darauf war derart beunruhigend, dass man trotz der Katastrophe vor zweihundert Jahren ernsthaft darüber nachdachte, es erneut mit atmosphärischen Sonnenblockern zu versuchen. Immer mehr Leute waren der Meinung, dass man die Sache auf der Mikro- oder Makroebene mit Geo-Engineering angehen musste. Intensiv auf der Mikroebene, behutsam auf der Makroebene – darüber gab es ein ständiges Hin und Her, und viele Mikro- oder winzige Makro-Restaurationsprojekte hatten bereits begonnen.
Ein Versuch bestand darin, das Abtauen der Eisberge der grönländischen Eiskappe zu verlangsamen. Die Antarktis und Grönland waren die einzigen beiden nennenswerten Eisreservoirs, die der Erde geblieben waren, und die Modelle gaben Anlass zu der Hoffnung, dass zumindest die östliche Antarktis den Temperaturgipfel überstehen konnte, bevor Atmosphäre und Ozean schließlich wieder abkühlen würden. Wenn es ihnen gelang, den CO 2 -Anteil auf 320 Teile pro Million zu reduzieren und einen Teil des Methans einzufangen, was einen Temperaturabfall zur Folge haben würde, und wenn der Eismantel über der östlichen Antarktis hielt, dann würden der Meeresspiegel zwar noch jahrelang hoch und das Meerwasser warm bleiben – aber ein großer Erfolg wäre es trotzdem. Genau genommen lohnte es sich kaum noch, über weitere Schritte nachzudenken, falls es ihnen nicht gelang, das Eis der östlichen Antarktis zu bewahren. Sie mussten es also ganz einfach schaffen. Inzwischen vertraten viele die Ansicht, dass man sich die Erde in der gleichen Weise würde vornehmen müssen wie den Mars und die Venus, und wenn dabei etwas kaputtginge – Pech gehabt. Manche meinten, dass eine weitere kleine Eiszeit genau das Richtige wäre: Von den unvermeidlichen Opfern, deren Zahl man auf eine Milliarde schätzte, redete keiner, aber die unterschwellige Botschaft lautete, dass ein paar Menschen weniger auch nicht schaden konnten. Schocktherapie – Triage – Leute, die gerne den Harten markierten, um als Pragmatiker zu erscheinen, redeten ständig solches Zeug.
Grönland war zwar ein wesentlich kleinerer Eiskuchen als die östliche Antarktis, deshalb aber noch lange nicht unbedeutend. Falls Grönland abschmolz (immerhin handelte es sich eigentlich bloß um ein Überbleibsel der riesigen Eisdecke aus der letzten Eiszeit, das unter den gegenwärtigen Umweltbedingungen sehr weit südlich lag), würde der
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