2312
Meeresspiegel um weitere sieben Meter ansteigen. Das würde den Untergang für die Küstenzivilisation bedeuten, die sich gerade erst an die neuen Verhältnisse angepasst hatte, und deshalb kämpfte man heftig dagegen an.
Wie alle Eisdecken schmolz das Eis über Grönland nicht einfach; es rutschte in Form von Gletschern ins Meer, beschleunigt durch das Schmelzwasser, das wie Schmiermittel unter dem Eis entlangfloss und die Gletscher aus ihren steinernen Betten löste. In der Antarktis war es genauso, aber während das Eis der Antarktis rundherum zu allen Seiten abrutschte und man nichts dagegen unternehmen konnte, lagen die Dinge in Grönland anders. Das grönländische Eis war größtenteils in einer Hochwanne zwischen umliegenden Bergketten eingeschlossen und konnte nur durch einige schmale Breschen im Felsgestein abrutschen wie durch Risse in einer Badewanne. Durch diese Breschen schoben sich die Gletscher mit einer Geschwindigkeit von mehreren Metern pro Tag, durch U-Täler, die bereits über Jahrtausende hinweg geglättet worden waren, und wenn sie sich den steigenden Meeresfluten näherten, glitten ihre Schnauzen über die Abschlusslippen, die sich oft an Fjordmündungen bildeten, sodass sie ganz besonders schnell und reibungslos im Meer landeten.
Früh in der Geschichte der Glaziologie hatten Forscher entdeckt, dass ein schneller Gletscher in der westlichen Antarktis mit einem Mal deutlich langsamer geworden war. Bei Untersuchungen stellte man fest, dass das Wasser unter dem Eis, das als Gleitmittel fungiert hatte, in eine andere Richtung abgeflossen war, sodass das gewaltige Gewicht des Gletschers wieder ganz auf dem Fels lastete und ihn bremste. Das brachte die Leute auf Ideen, und sie versuchten, in Grönland auf künstliche Weise etwas Ähnliches herbeizuführen. An einem der schmalsten und schnellsten grönländischen Gletscher, dem Helheim, probierten sie mehrere Methoden aus.
Die Westküste Grönlands war beruhigend vereist, dachte Swan, in Anbetracht dessen, was man über die große Schmelze hörte. Unter ihrem Helikopter lag eine dünne Haut aus Winterseeeis, die in große, polygonale weiße Stücke auf einer schwarzen See zerbrach. Man sagte ihr, dass es an den Nordküsten Grönlands und der Ellesmere-Insel einen Polarbärenpark gab, wo Tafelberge auf der natürlichen Strömung trieben oder von Maschinen mit langen, biegsamen und von Solarpropellern betriebenen Auslegern zusammengeschoben wurden. Das Arktiseis war also nicht ganz verschwunden. Von oben war es wirklich wunderschön anzuschauen, und ebenso schön war der schwarze Ozean, der völlig anders aussah als das blaue Tropenmeer. Schwarzer Ozean, weißes Eis. Blautöne gab es nur am Himmel und in den Schmelzwasserbecken, die überall über die freiliegenden grönländischen Eisplatten verstreut waren, welche im Griff der zerklüfteten schwarzen Kämme drei Kilometer über dem Meeresspiegel lagen – die Küstenbergkette, der zernagte Rand der Badewanne, der das Inlandplateau festhielt. Die gesamte Situation war deutlich ersichtlich, wenn man in fünf Kilometern Höhe mit einem Helikopter flog.
»Ist das unser Gletscher?«, fragte Swan.
»Ja.«
Der Pilot hielt auf ein kleines rotes X auf einer flachen Felsplatte an einer Steilkante zu, von der aus man freie Sicht auf den Gletscher hatte, mehrere Kilometer stromaufwärts von der Stelle, an der er ins Meer kalbte. Als sie tiefer gingen, stellte sich heraus, dass die Platte etwa zwanzig Hektar groß war und dem gesamten Lager Platz bot; das rote X war riesenhaft. Während sie das letzte Stück hinabstiegen, lag die ganze fantastische Szenerie unter ihnen ausgebreitet: schwarze, knochige Kämme, weißes Eis und das schwarze Wasser im Fjord, auf das die Sonne herabknallte.
Außerhalb des Helikopters war es betäubend kalt. Swan schnappte nach Luft, und mit einem Mal durchfuhr sie die Angst: Wenn man im All eine derartige Kälte verspürte, bedeutete es einen Stromausfall und den unmittelbar bevorstehenden Tod. Doch hier grüßten die Leute sie und lachten über das Gesicht, das sie machte.
Überall auf dem Plateau reckten sich gesplitterte, flechtenbewachsene schwarze Felsspitzen in den Himmel. Die Abhänge des U-Tals unter ihnen waren vom Eis ausgehöhlt, sodass sie wie Muskelfleisch aussahen. Horizontale Rillen zogen sich dort hindurch, wo Felsbrocken sich in den Granit gebohrt hatten – es müssen gewaltige Kräfte geherrscht haben.
Der Gletscher selbst bestand größtenteils aus einer
Weitere Kostenlose Bücher