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2312

2312

Titel: 2312 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kim Stanley Robinson
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Gewalt über die andere herrscht, manchmal eher im Sinne eines Paradigmas, das unbemerkt Zustimmung zu bestimmten Machtverhältnissen erzeugt. Falls das Paradigma infrage gestellt wird, insbesondere in Situationen materieller Not, kann es zu einem nichtlinearen Verlust der Hegemonie kommen, sodass eine Revolution sich so schnell ereignet, dass keine Zeit für mehr als symbolische Gewalt bleibt, wie in den samtenen, leisen, seidenen und singenden Revolutionen von 1989.«
    »Es gab eine singende Revolution?«
    »Die baltischen Staaten Lettland, Estland und Litauen bezeichneten ihren Rückzug aus der Sowjetunion als singende Revolutionen, ein Begriff, der sich auf das Verhalten der Demonstranten auf den Marktplätzen bezog. Was uns zu einem wichtigen Punkt bringt: Menschen in physischen Ansammlungen scheinen eine Rolle zu spielen. Wenn ein hinreichender Bevölkerungsanteil bei Massendemonstrationen auf die Straße geht, dann hat die Regierung einen schlechten Stand für ihre Verteidigung. ›Wäre es da nicht doch einfacher, die Regierung löste das Volk auf und wählte ein anderes?‹, wie Brecht sagte. Da das unmöglich ist, stürzen Regierungen in diesem Fall oft. Oder es kommt zu einem Bürgerkrieg.«
    »Mit Sicherheit ist die Literatur über Revolutionen nicht so oberflächlich«, sagte Swan. »Du zitierst einfach nur irgendwas! Dein Verstand ist wie die Ringe des Saturns, eine Million Meilen breit und nur einen Zoll tief.«
    »Katechese und antiquierte Maßeinheiten lassen Ironie oder Sarkasmus vermuten. Bei dir würde ich eher Sarkasmus vermuten …«
    »Sagte sie sarkastisch! Du Suchmaschine du.«
    »Ein Quantendurchlauf ist definitionsgemäß ein Zufallsdurchlauf. Du kannst mein Programm gerne auf den neuesten Stand bringen, sobald du die Gelegenheit dazu hast. Ich habe gehört, dass Wangs anderer Algorithmus gut sein soll. Gewisse Verallgemeinerungsprinzipien wären sicher nützlich.«
    »Erzähl mir mehr von den Gründen für Revolutionen.«
    »Die Menschen hängen Ideen an, die Erklärungen und psychologische Kompensation für ihre Position im Klassensystem ihrer Zeit bieten. Entweder sie verstärken ihr Gefühl, zu kurz gekommen zu sein, indem sie ihnen ihre Lage verdeutlichen, oder sie versuchen, es mittels einer Ideologie für unwichtig abzutun, die ihr eigenes Wohlergehen hinter einem größeren Projekt zurückstellt, dessen Teil sie sind. Deshalb handeln Menschen sehr oft gegen ihre eigenen Interessen – sie hängen Ideologien an, die ihre Unterwerfung rechtfertigen. Dabei spielen sowohl Selbstbetrug als auch Hoffnung eine Rolle. Solche Kompensationsideologien sind Teil des hegemonialen Einflusses auf die Unterworfenen in einer imperialen Situation. So etwas geschieht in allen Klassensystemen, also in allen Kulturen der überlieferten Geschichte seit den ersten bäuerlichen und städtischen Gesellschaften.«
    »Das waren alles Klassensysteme?«
    »Möglicherweise gab es vor der neolithischen agrokulturellen Revolution klassenlose Gesellschaften, aber aufgrund der Quellenlage ist unser Verständnis solcher Kulturen sehr spekulativ. Mit Sicherheit lässt sich nur sagen, dass in der agrokulturellen Revolution nach der Eiszeit, bei der es sich um eine der umfassenderen Revolutionen handelte, die wahrscheinlich um die tausend Jahre dauerte, eine Klasseneinteilung in Form eines staatlichen Machtapparats institutionalisiert wurde. Überall auf der Welt und unabhängig voneinander entwickelte sich eine vierschichtige Teilung in Priester, Krieger, Handwerker und Bauern. Oft wurden alle vier Klassen von einem Monarchen beherrscht, der von allen als heilig anerkannt wurde, einem König, der gleichzeitig ein Gott war. Für die Priester- und Kriegerklassen war das sehr nützlich, genau wie für die Machtausübung von Männern über Frauen und Kinder.«
    »Also gab es nie eine klassenlose Gesellschaft.«
    »Nach gewissen Revolutionen wurden vorgeblich klassenlose Gesellschaften eingerichtet, aber normalerweise gibt es bei solchen Revolutionen Anführer, die schnell eine neue herrschende Klasse bilden, und die verschiedenen gesellschaftlichen Rollen, die die Einwohner des postrevo lutionären Staats einnehmen, werden aufgrund des unterschiedlichen Werts, der den verschiedenen Rollen zugesprochen wird, wieder zu Klassen. In der Folge wird recht schnell eine neue Hierarchie aufgebaut, normalerweise im Laufe von fünf Jahren.«
    »Also waren alle Kulturen in unserer Geschichte Klassensysteme.«
    »Manchmal wird

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