Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
2312

2312

Titel: 2312 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kim Stanley Robinson
Vom Netzwerk:
Stich genügt, um alle, die man kennt, zu töten. Verstehst du, um welchen Unterschied es mir geht?«
    »Ja.«
    Wahram lehnte sich in seinem Stuhl zurück. Seinem Zugeständnis war nichts hinzuzufügen. Der ernste Ausdruck auf seinem breiten Gesicht sagte alles: Das Leben war etwas, das in kleinen Fläschchen bewahrt wurde. Was konnte man da schon machen? Das sagte er ihr mit seinem Gesichtsausdruck, mit seinem leichten Schulterzucken; sie verstand es so deutlich, als hätte er es laut ausgesprochen. So saß sie also da, schaute ihn an und dachte darüber nach, was das bedeutete. Sie kannte ihn. Gleich würde er versuchen, einen Weg nach vorne zu finden. Es würde der schleichende Weg eines Gradualisten sein, eines Faultiers, das sich mit dem Kopf nach unten an einem Ast entlanghangelt und dabei so wenig Kraft wie möglich aufwendet. Und doch war er derjenige gewesen, der vorgeschlagen hatte, mit der Reanimierung zu beginnen. Das hätte sie niemals vorhersehen können. Vielleicht hatte er sich sogar selbst überrascht. Gleich würde er etwas Tröstliches, Gradualistisches sagen.
    »Wir können nur unser Bestes versuchen«, sagte er. »Das muss doch etwas wert sein.«
    »Ja, natürlich.« Swan schaffte es gerade so, nicht loszulachen. Sie spürte, wie sich ein Lächeln auf ihren Lippen breitmachte; wahrscheinlich würde sie gleich losweinen. Wie kaputt war sie eigentlich im Kopf, wenn sie immer alles auf einmal verspürte, wenn jede Freude von Kummer durchtränkt war? Waren in jedem Gefühl auch immer alle anderen mit enthalten? »Alles klar«, sagte sie, »wir versuchen unser Bestes. Aber wenn irgendwelche Verrückten Terminator zerstören können, oder jeden beliebigen anderen Ort, dann sollte das ja wohl Grund genug sein, um etwas zu ändern.«
    Über diese Worte dachte Wahram so lange nach, dass es aussah, als wäre er eingeschlafen.
    Sie versetzte ihm einen Stoß, und er warf ihr einen Blick zu. »Was denn?«
    »Was denn!«, rief sie.
    Er zuckte nur mit den Schultern. »Dann versuchen wir eben, sie aufzuhalten. Wir versuchen, mit der Situation, in der wir uns befinden, klarzukommen.«
    »Damit klarzukommen«, sagte sie mit finsterer Miene. »Komm halt damit klar!«
    Er nickte und bedachte sie mit einem liebevollen Blick. Sie stand kurz davor, ihm einen weiteren Stoß zu versetzen; aber dann fiel ihr wieder ein, dass sie ihn eben noch ausgelacht hatte; und dass sie durch ihr Gespräch mit Pauline ihr Versprechen ihm gegenüber gebrochen hatte. Diese überstürzte Handlung, so sehr sie ihm auch missfallen hätte, war vielleicht ihr eigener Versuch, mit der Situation klarzukommen. Vielleicht konnte sie sich damit rausreden, falls er sie ertappte. Auf jeden Fall war die Sache ein bisschen zu kompliziert, um ihm jetzt einfach einen Stoß zu versetzen.
    Man hatte die ETH Mobile zum Abbremsen umgedreht, und es würde nur noch einige wenige Tage dauern, bis sie die Sonnenumlaufbahn der Erde passieren und sich der Venus nähern würden. Ihr Leben an Bord dieses Schiffes, mit seinem Park und seiner Musik und seiner französischen Küche, würde sein Ende finden. Niemand tut etwas bewusst zum letzten Mal, ohne dabei ein wenig traurig zu sein, hatte Dr. Johnson einmal Boswell gegenüber bemerkt, und auf Swan traf diese Aussage jedenfalls zu. Sie sehnte sich oft danach, in der Gegenwart zu verweilen, weil sie merkte, dass ihr Leben schneller an ihr vorbeirauschte, als sie es aufnehmen konnte. Sie lebte es, sie spürte es; sie machte keine Zugeständnisse an ihr Alter, sie wollte nach wie vor alles; aber sie konnte es nicht zu einem Ganzen zusammenfügen, sodass eins ins andere griff. Da saßen sie und aßen auf dem obersten Balkon eines Restaurants, von dem aus man auf die Baumwipfel hinabblicken konnte, zu Mittag, und Swan war traurig, weil sie später nicht mehr hier sein würde. Eine Welt ging verloren, eine Welt, an die sich niemand erinnern würde. Und da saß sie nun mit Wahram, als ein Paar; aber was war, wenn sie dieses Raumschiff verließen und ihre Wege durch Raum und Zeit fortsetzen? Was würde in einem Jahr sein, was in den vielen Jahrzehnten, die vielleicht noch folgen würden?
    Ein paar Tage später näherten sie sich der Venus, als Pauline sich in ihrem Ohr zu Wort meldete. »Swan, ich habe mich mit Wangs Qube in Verbindung gesetzt, und mit der KI dieses Schiffs, und ich muss dir etwas mitteilen. Vielleicht möchtest du lieber allein sein, während du es dir anhörst.«
    Das war so ungewöhnlich, dass Swan sich

Weitere Kostenlose Bücher