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2312

2312

Titel: 2312 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kim Stanley Robinson
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langsamer.
    Stunde für Stunde. Manchmal setzte sie sich, ohne dass sie ein Wort darüber verloren, auf den Wagen. Über ihnen an der Oberfläche zogen die nach großen Künstlern der Erde benannten Krater und Steilhänge vorbei: Sie liefen unter Ts’ao Chen, Philoxenos, Rumi und Ives vorbei. Wahram pfiff Columbia, the Gem of the Oceans , eine Melodie, die Ives in so denkwürdiger Weise in eine seiner ungezügelteren Kompositionen eingebaut hatte. Er dachte an Rumis Ich starb als Stein und wünschte, dass er es sich besser gemerkt hätte. » Ich starb als Stein und sprosst’ als Pflanze auf. Ich starb als Pflanze und ward Tier darauf. Ich starb als Tier und bin zum Mensch geworden. Was grauet mir, hab’ durch den Tod ich je verloren? «
    »Von wem ist das?«
    »Rumi.«
    Wieder Stille. Sie folgten der langen Krümmung des Tunnels. Die Wände waren hier rissig, und es sah aus, als hätte man sie ausgiebiger als den Rest erhitzt, um das Gestein undurchlässig zu machen. Eine splittrige Glasur, Schwarz auf Schwarz. Eine endlose Krakelüre.
    Stöhnend erhob sich Swan von dem Rollwagen und ging zurück Richtung Westen. »Warte bitte, ich muss schon wieder.«
    »Liebe Güte. Viel Glück.«
    Nach einer Weile hörte er ein entferntes Ächzen, vielleicht sogar ein verlorenes »Hilfe.« Den Wagen hinter sich herziehend ging er im Tunnel zurück.
    Sie war einmal mehr mit heruntergelassenem Anzug zusammengebrochen. Einmal mehr säuberte er sie. Diesmal war sie nicht völlig bewusstlos und wandte den Blick ab. Einmal versuchte sie sogar kraftlos, ihn beiseitezuschieben. Mittendrin schaute sie trübe und zornig zu ihm auf. »Das bin nicht wirklich ich«, sagte sie. »Eigentlich bin ich gar nicht hier.«
    »Tja«, erwiderte er ein wenig beleidigt. »Ich auch nicht.«
    Sie sackte wieder zusammen. Nach einer Weile sagte sie: »Also ist niemand hier.«
    Als er fertig war und sie wieder angezogen hatte, bugsierte er sie auf den Wagen und schob sie weiter. Sie lag wortlos da.
    Bei der nächsten Pause brachte er sie dazu, etwas Wasser mit darin gelösten Nährstoffen und Elektrolyten zu trinken. Der Rollwagen, bemerkte sie einmal, erinnerte langsam an ein Krankenhausbett. Dann und wann pfiff Wahram ein wenig, meistens Brahms. Brahms’ Melancholie lag eine gewisse stoische Entschlossenheit zugrunde, die sehr gut zu ihrer jetzigen Lage passte. Sie hatten noch zweiundzwanzig Tage vor sich.
    An diesem Abend saßen sie schweigend da. Sie verfielen in ein leicht verwirrtes Instinktverhalten, wie Menschen es oft nach kleinen Krisen tun – wandten die Köpfe voneinander ab und trafen gedankenlos ihre Vorbereitungen für die Nacht; und dann sanken sie unter dumpfen Schmerzen in den Schlaf, diese unsichtbare Zuflucht. Bei solchen Gelegenheiten musste man sich zum Trost an das Pseudoiterativ klammern. Seine Wunden lecken. All das war schon einmal geschehen und würde erneut geschehen.
    Eines Morgens stand sie auf und versuchte loszugehen, nur um sich nach zwanzig Minuten wieder auf den Wagen zu setzen. »Das ist besorgniserregend«, sagte sie kleinlaut. »Wenn so viele Zellen zerstört worden sind …«
    Wahram sagte nichts. Er schob sie weiter. Mit einem Mal kam ihm der Gedanke, dass sie vielleicht hier in diesem Tunnel sterben würde und er nichts dagegen unternehmen konnte, und eine Woge der Übelkeit durchlief ihn und ließ ihm die Knie weich werden. Ein Krankenhausaufenthalt hätte so viel bewirken können.
    Nach langem Schweigen sagte sie mit gedämpfter Stimme: »Ich schätze, es hat mir seit jeher Spaß gemacht, mein Leben aufs Spiel zu setzen. Ich habe den Schock der Angst genossen. Den Nervenkitzel, wenn man überlebt. Es war eine Art Dekadenz.«
    »Das hat meine Mama auch immer gesagt«, bemerkte Wahram.
    »Wie bei Gruselgeschichten, mit denen man sich schocken will, um wach zu werden. Aber das ist alles Unsinn. Angenommen, man erlebt, wie jemand stirbt, und hilft ihm dabei. All die Bilder, die man sieht, sind aus Horrorgeschichten. Es wird einem klar, dass diese Bilder aus dem eigenen Kopf stammen. Aber man bleibt trotzdem. Und nach einer Weile begreift man, dass die Welt nun mal so ist. Jeder endet so. Man hilft, aber eigentlich kann man nicht helfen, man sitzt einfach nur da. Und am Ende hält man die Hand von jemand Totem. Eigentlich sollte es ein Albtraum sein. Knochen, die aus der Erde emporfahren, um einen zu packen und so. Aber in Wirklichkeit ist es völlig natürlich. Es ist alles natürlich.«
    »Ja?«, fragte Wahram,

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