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2312

2312

Titel: 2312 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kim Stanley Robinson
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nachfragte. »Halt die Klappe, und lass mich in Ruhe. Du bist für mich zu nichts zu gebrauchen. Wenn es hart auf hart kommt, bist du zu nichts zu gebrauchen.«
    In jener Nacht erreichten sie eine weitere Aufzugsstation. Sie stopfte Essen in sich hinein, wie man Batterien in eine Maschine steckt. Anschließend brummte sie wieder vor sich hin, ohne dass er ihren Worten hätte folgen können. Wahrscheinlich redete sie mit ihrer Pauline. Die ganze Zeit ging das so, ein Brummen in seinem Ohr. Weiter hinten im Tunnel führten sie ohne Zwischenfall ihre Waschungen durch, und dann legten sie sich auf ihre Matten und versuchten zu schlafen. Das Brummen ging weiter. Nach einer Weile schlief Swan schließlich wimmernd ein.
    Am nächsten Morgen wollte sie nicht essen, nicht sprechen und sich nicht einmal bewegen. Sie lag katatonisch oder synkopisch oder vielleicht einfach paralysiert auf der Seite.
    »Pauline, kannst du reden?«, fragte Wahram schließlich leise, weil Swan einfach nichts von sich geben wollte.
    Die leicht gedämpfte Stimme aus Swans Hals sagte: »Ja.«
    »Kannst du mir etwas über Swans Lebenszeichen sagen?«
    »Nein«, sagte Swan völlig unvermittelt.
    »Die Lebenszeichen, auf die ich Zugriff habe, sind normal, mit Ausnahme des Blutzuckerspiegels.«
    »Du musst essen«, sagte Wahram zu Swan.
    Sie antwortete nicht. Er löffelte ihr etwas Elektrolytenlösung in den Mund und wartete geduldig, bis sie schluckte. Als sie ein paar Deziliter aufgenommen hatte, ohne allzu viel davon wieder auszuspucken, sagte er: »Dort oben ist es Mittag. Über uns an der Oberfläche ist es Mittag. Wir haben die Tagseite zur Hälfte hinter uns. Ich glaube, wir müssen dich hochbringen, damit du die Sonne sehen kannst.«
    Swan öffnete ein Lid einen Spaltbreit und blickte zu ihm auf.
    »Wir müssen sie sehen«, erklärte er.
    Sie stemmte ihren Oberkörper hoch. »Meinst du?«
    »Ist das möglich?«, fragte Wahram zurück.
    »Ja«, sagte sie nach kurzem Überlegen. »Das ist es. Wir können im Schatten der Schienen bleiben. Zu Mittag ist es nicht so schlimm wie morgens oder nachmittags, weil die Photonen direkt von oben kommen und nicht so viele auf den Anzug treffen. Allerdings sollten wir nicht so lange draußen bleiben.«
    »Das geht in Ordnung. Du musst sie sehen, und jetzt ist der richtige Zeitpunkt. Mittag auf dem Merkur. Komm mit.«
    Er half ihr auf. Dann suchte er ihre Helme, brachte sie in die Aufzugskabine und kehrte zurück, um Swan hochzuheben und sie hinüberzutragen. Während sie hochfuhren, setzte er ihr ihren Helm auf, versiegelte ihn, überprüfte ihre Luftzufuhr und tat das Gleiche bei sich. Laut der Anzeigen war alles in bester Ordnung. Der Aufzug kam zum Stehen. Wahram spürte seinen Puls in den Fingerkuppen.
    Die Fahrstuhltür öffnete sich zur Außenplattform, und die Welt wurde weiß. Ihre Visiere passten sich an, und vor ihnen erschien die Welt in einfachen, schwarz-weißen Umrissen. Ein wenig unten links von ihnen befanden sich die Schienen der Stadt, die weiß und hell leuchteten. Rechts von ihnen erstreckte sich die Mittagslandschaft des Merkur bis zum Horizont. Da es keine Atmosphäre gab, konnte nur die Planetenoberfläche selbst die volle Wucht der Sonnenstrahlen absorbieren; sie glühte weiß. Wahrams Visier hatte sich so stark eingedunkelt, dass die Sterne am Himmel nicht mehr zu erkennen waren. Sie hatten eine weiße Fläche unter einem schwarzen Halbkreis vor sich. Das Weiß pulsierte leicht.
    Swan trat durch die Tür auf die Plattform. »He!«, sagte Wahram und folgte ihr. »Komm wieder rein!«
    »Wie sollen wir da drin die Sonne sehen? Komm, für einen Moment ist das schon in Ordnung.«
    »Die Plattform ist sicher siebenhundert Kelvin heiß, wie der ganze Rest auch.«
    »Deine Stiefelsohlen sind absolut isoliert gegen solche Temperaturen.«
    Erstaunt ließ Wahram sie los. Sie legte den Kopf in den Nacken, um in die Sonne zu schauen. Wahram folgte ihrem Blick unwillkürlich – ein atemberaubendes Feuer – und schaute dann ängstlich wieder zu Boden. Er konnte ganz in Ruhe das Nachbild betrachten: ein gleichzeitig weißer und roter Kreis, riesig und inmitten seines Blickfelds. Die Dhalgren-Sonne, schließlich Wirklichkeit geworden. Sein Visier war offensichtlich fast vollständig polarisiert und von einem nahezu undurchsichtigen Schwarz, und trotzdem sah das Land noch weiß aus, mit feinen schwarzen Gravurlinien. Swan schaute noch immer zum Himmel. Halb verdurstet tauchte sie in die Fluten ein.

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