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2312

2312

Titel: 2312 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kim Stanley Robinson
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die sehr intensiv ist, aber eigentlich albern, und wenn man sie hinter sich hat, kann man nicht darauf zurückblicken, ohne das Gefühl zu haben … man fragt sich zwangsläufig, ob es gut war oder nicht. Es fehlt einem, aber man bereut es auch, es ist so dumm. Ich tue ständig alles Mögliche, aber ich weiß immer noch nicht, was ich tun sollte.«
    »Leben und Kunst schaffen«, sagte er.
    »Von wem ist das?«
    »Von dir, dachte ich.«
    »Daran kann ich mich nicht erinnern. Vielleicht habe ich es gesagt. Aber was, wenn ich keine besonders gute Künstlerin bin?«
    »Es ist ein Langzeitprojekt.«
    »Und manche Leute blühen erst spät im Leben auf, willst du das sagen?«
    »Ja, vermutlich. Etwas in der Art. Man erhält immer wieder neue Chancen.«
    »Mag sein. Aber irgendwie wäre es gut, Fortschritte zu machen, weißt du. Nicht immer die gleichen Fehler zu wiederholen.«
    »Spiralen«, schlug er vor. »Steig in einer Spirale auf, indem du die gleichen Sachen auf höherer Ebene wiederholst. Das ist die ganze Kunst, egal, was man macht.«
    »Für dich vielleicht.«
    »Aber es ist nichts Ungewöhnliches an mir.«
    »Dem möchte ich widersprechen.«
    »Nein, nichts Ungewöhnliches. Mittelmaß als Prinzip.«
    »Befürwortest du dieses Prinzip?«
    »Ich bin exemplarisch dafür. Der Mittelweg. Mitten im Kosmos. Aber nicht mehr als alle anderen auch. Ein seltsames Merkmal der Unendlichkeit. Wir sind alle irgendwie in der Mitte. Wie dem auch sei, ich finde diese Perspektive hilfreich. Ich benutze sie, um an Dingen zu arbeiten. Um sozusagen mein Projekt zu strukturieren. Als Teil einer Philosophie.«
    »Philosophie.«
    »Ja, schon.«
    Dieser Gedanke ließ sie verstummen.
    »Vielleicht sind wir daran vorbeigegangen«, sagte Swan eines Tages, während sie hinter ihm ging. »Vielleicht sind wir den ganzen Weg unter der Tagseite durchgelaufen und auch unter der Nachtseite, und jetzt sind wir wieder in der Sonne. Vielleicht haben wir die Zeit und die Entfernung aus dem Blick verloren. Vielleicht hast du uns mit deiner Unfähigkeit in die Scheiße geritten, genau wie Pauline.«
    »Nein«, antwortete er.
    Sie beachtete ihn nicht und brummte etwas davon, was während ihrer Zeit unter der Erde alles schiefgegangen sein konnte. Es wurde eine erstaunlich lange und schaurig einfallsreiche Liste: Vielleicht hatten sie die Orientierung verloren und gingen nun in Wirklichkeit nach Westen; vielleicht waren sie in einen anderen Tunnel geraten und Richtung Nordpol abgebogen; vielleicht hatte man den Merkur evakuiert und sie waren die einzigen lebenden Wesen auf dem Planeten; vielleicht waren sie in der Sonne gestorben und waren mit dem Aufzug in die Hölle herabgefahren. Wahram fragte sich, ob sie das im Ernst meinte, und hoffte, dass dem nicht so war. Es gab so vieles, was zu ihrem Unglück beitrug. Ihr Tagesrhythmus; möglicherweise lief sie, während sie eigentlich schlafen sollte. Vor vielen Jahren hatte er gelernt, dass man keinem Gedanken trauen durfte, den man zwischen zwei und fünf Uhr morgens fasste; in diesen dunklen Stunden fehlten dem Gehirn bestimmte Nährstoffe oder Funktionen, die es brauchte, um Denkprozesse korrekt abzuwickeln. Gedanken und Gefühle verdunkelten sich und wurden zuweilen schwarz wie Fugilin. Besser man schlief, und wenn man das nicht konnte, dann tat man besser schon im Vorhinein alle Gedanken und Stimmungen ab, die einen in diesen Stunden überkamen, und wartete, was der neue Tag an frischen Perspektiven mit sich brachte. Er fragte sich, ob er sie irgendwie danach fragen konnte, ohne ihr zu nahe zu treten. Wahrscheinlich nicht. Sie war ohnehin schon gereizt und fühlte sich offenbar elend.
    »Wie geht es dir?«, fragte er dann und wann.
    »Wir werden nie ankommen.«
    »Stell dir einfach vor, dass wir auch schon nirgendwo angekommen sind, bevor wir hier waren. Ganz egal, wo man sich hinbewegt, man kommt nie irgendwo an.«
    »Aber das ist völlig falsch. Himmel, ich hasse deine Philosophie . Natürlich sind wir irgendwo angekommen .«
    »Wir kommen von weit her, und wir haben noch einen weiten Weg vor uns.«
    »Ach bitte. Fick dich doch mit deinen Glückskeksen. Wir sind jetzt hier. Es dauert zu lange . Zu lange …«
    »Stell es dir als Ostinato-Passage vor. Eine sture Wiederholung.«
    Doch dann verstummte sie und begann zu stöhnen – es war beinahe ein Summen, ein Geräusch, das sie von sich gab, ohne es zu merken. Kleine, elende Schnaufer. Ein Weinen. »Ich will nicht reden«, sagte sie, als er erneut

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