234 - Das Drachennest
Drachengrund; die Bezeichnung war unter den Mar’os-Jüngern genauso verbreitet wie unter den dekadenten Vegetariern.
Agat’ol leerte seinen Teller, sah auf und begegnete Crows Blick. Eine steile Falte hatte sich zwischen die Brauen des Generals gegraben. Misstrauen lag in seinen Zügen. Er beobachtet mich, dachte Agat’ol. Er ahnt, dass ich ihn als Geleitschutz und Chauffeur missbrauche. Selbstverständlich überlegt auch er schon, wie er mich los wird, wenn wir den Flächenräumer erst gefunden haben…
»Und verändert das Hormon auch das Aussehen von euch Hydriten?«, wollte Hagenau wissen. »Ich meine, diese Fleisch fressenden Fischleute – sehen die anders aus als du und deinesgleichen?« Er stieß auf und lehnte sich im Pilotensessel zurück. Crow bedachte ihn mit einem tadelnden Blick.
»Nein und ja«, sagte Agat’ol. Er war enttäuscht, weil Hagenau noch nicht die geringsten Vergiftungserscheinungen zeigte. »Nein, eine vergrößerte Tantrondrüse führt zu keinen äußerlichen Veränderungen. Ihr Sekret verursacht lediglich ein vermehrtes Verlangen nach Essen und Paarungsaktivität. Und nach Jagd und Kampf natürlich.« Der Gedanke daran, dass er Hagenau und Crow einst töten würde, ließ Agat’ols Herz höher schlagen; und der Gedanke, dass ihm die Hydritenweiber zu Füßen liegen würden, wenn er erst die Waffe und damit die Macht besaß – dieser Gedanke ließ seine Lenden brennen und brachte sein Blut zum Sieden. »Und ja – sie sehen anders aus als ich.«
»Anders als du?« Der General runzelte die Stirn. »Wie denn?«
»Nun, die Fleisch fressenden Hydriten unterscheiden sich äußerlich nicht von den vegetarischen. Die Vertreter beider Arten unterscheiden sich jedoch von mir.« Er räusperte sich und versuchte sein Unbehagen zur Seite zu schieben.
»Inwiefern?« Arthur Crow fuchtelte ungeduldig mit der Gabel. »Lass dir doch nicht jedes Wort einzeln aus der Nase ziehen!«
»Ich bin eine Ausnahmeerscheinung unter den Hydriten. Ein ganz spezielles Erbgut hat meinen starken Körper und meine ungewöhnlichen Begabungen hervorgebracht. Kein anderer Hydrit hat einen doppelten Kamm wie ich, und kaum einer ist mit einem derart stabilen und kräftigen Körper gesegnet. Auch kenne ich bis heute niemanden unter meinen Artgenossen, den die Natur mit einem rot-schwarz gescheckten Schuppenkleid geschmückt hat. Die Schuppenhaut der Hydriten ist normalerweise von einem ganz gewöhnlichen Blaugrün.«
Dass hydritische Wissenschaftler seine Mutation darauf zurückführten, dass Agat’ol ursprünglich wohl der Fötus einer Zwillingsschwangerschaft gewesen und der zweite Fötus mit seinem Körper verschmolzen war, verschwieg er dem General.
»So, so«, knurrte Crow und leerte seinen Teller. »Erzähl mir mehr von diesem Mar’os-Kult.« Aus den Augenwinkeln beobachtete Agat’ol, wie Hagenau die Brauen zusammenzog und sich mit der Rechten den Bauch rieb. Endlich. »Wie konnte es geschehen, dass ein und dieselbe Rasse sich so unterschiedlich entwickelte?«, wollte der General wissen. »Wie kam es dazu, dass dein Volk und die Mar’osianer sich bekriegen? Das interessiert mich, und wir haben eine Menge Zeit. Also los, erzähle.«
»Gern«, sagte Agat’ol. »Alles begann mit dem Großen Gilam’esh und der Weltenwanderung, die der Geistwanderer vor vielen Millionen Jahren Ihrer Zeitrechnung durch sein Zeittunnelfeld ermöglicht hat.«
Zu jedem Wort musste er sich überwinden. Er hasste den Namen »Gilam’esh«, er hasste es, ihn einen »Großen« zu nennen. Doch die beiden Lungenatmer durften nicht erfahren, dass er in Wahrheit in Anhänger des Mar’os-Kultes war.
»Hunderttausende von Hydriten – damals nannte mein Volk sich noch Hydree – wurden zu jener Zeit von dem vierten Planeten dieses Sonnensystems zur Erde evakuiert…«
»Mist«, murmelte Hagenau und rieb sich den Bauch. »In meinem Gedärm brennt es auf einmal wie…« Schweißperlen glänzten auf seiner Halbglatze.
»Geben Sie Ruhe, Mann!«, fuhr Crow ihn an. »Hören Sie denn nicht, welch atemberaubende Geschichte unser hydritischer Gast uns gerade erzählt?« Und dann an Agat’ols Adresse: »Du glaubst tatsächlich, die Geschichte deiner Gattung begann auf dem Mars? So etwas habe ich ja noch nie gehört! Erzähl weiter!«
Und Agat’ol erzählte, was er während seines einjährigen Aufenthalts in Gilam’esh’gad in Erfahrung gebracht hatte – ein Wissen, das heute nur noch wenige Hydriten besaßen, während es beim gemeinen
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