24 - Ardistan und Dschinnistan I
bat er mich, es noch einmal zu tun, da er noch nicht alles verstanden habe. Natürlich erfüllte ich ihm diesen Wunsch. Das, was er hörte, lautete zu deutsch:
Entschluß
Ich saß so manchen langen Tag
Bei dir vor dem Katheder,
Jedoch, was deine Weisheit sprach,
Das wußte fast schon jeder.
Ich saß so manche lange Nacht,
Um dich auch noch zu lesen,
Doch, was du mir da eingebracht,
Ist nicht von dir gewesen.
Und gestern hab' ich dich belauscht,
Als du die Psalmen lasest
Und, wie von ihrem Duft berauscht,
Die Weisheit ganz vergaßest.
So stell' ich nun das Grübeln ein
Und will dich nicht mehr fragen.
Der Herrgott soll Professor sein;
Der wird mir alles sagen!
Als ich zum zweiten Mal fertig war, schwieg Halef. Er hielt seinen Blick nach Norden gerichtet, um das Erstaunliche voll und ganz in sich aufzunehmen, und äußerte zunächst kein Wort. Nach einiger Zeit aber sagte er:
„Du hast recht, Effendi. Ich habe weniger gesehen als du, nicht nur heute, sondern immer, immer. Daran bin ich aber nicht schuld, sondern Allah. Wo etwas Schönes, Edles, Beglückendes, Großes, Erhabenes geschieht, da ist euer Gott und Vater stets zu finden, unser Allah aber nie! Der bewacht für seine Gläubigen die sieben Paradiese und rasselt gegen die Ungläubigen mit dem Säbel! Den Gedanken deines Gottes und Vaters findest du in jedem, auch im kleinsten seiner Werke; der Gedanke Allahs aber steckt weder in der Morgenröte, noch in der Zärtlichkeit der Nachtigall oder in der Lieblichkeit der Blume auf dem Feld. Wir sind arm, bitterarm! Wir kennen kein liebes, freundliches Band, welches die irdische Natur mit dem himmlischen Schöpfer vereint. Allah spricht weder im Donner noch im Blitz, weder im Sausen des Sturmes noch im Brausen des Meeres. Er ist überhaupt gern still. Er hat, glaube ich, nur ein einziges Mal gesprochen, durch Mohammed. Und auch das war nicht er selbst, sondern der Erzengel, den er sandte. Euer Vater aber ist überall! Du bist Dichter! Jeder Baum erzählt dir von ihm; hinter jedem Strauch lugt sein gütiges Auge hervor, um dir Liebe zu erweisen. Allah aber wohnt nur in den alten, schmutzigen, leblosen, papierenen Blättern des Koran, sonst nirgendwo! Sihdi, glaube mir, es gibt mehr, viel, viel mehr Gottessehnsucht auf Erden, als du denkst! Aber es fehlt an einem anderen und natürlichen Weg, Gott kennenzulernen, als durch den Koran oder durch den Sahahr!“
„Es gibt einen anderen Weg!“ antwortete ich.
„Wo?“
„Hier! Von diesem Tempel aus! Es ist der Weg, den wir morgen früh zu reiten haben. Der Weg vom Land der Ussul hinauf nach Dschinnistan.“
Um die Richtung, die ich meinte, anzudeuten, hob ich den Arm und zeigte nach Norden, wo die Glut der Erde zum Himmel flammte, als ob sie die Sehnsucht, von der Halef gesprochen hatte, zu versinnbildlichen habe.
„Gibt es da oben wirklich den Vater, nach dem die Menschheit sucht?“ fuhr Halef fort. „Ich sehe da oben nur Berge, die Feuer speien. Das überwältigt mich, gibt mir aber keine Antwort auf meine Frage. Du aber hast, wie Moses einst im glühenden Busch, in diesem Feuer Gott gesehen und bist dir sofort darüber klargeworden, daß nur er allein Professor sein und bleiben könne. Ist es denn möglich, daß auch ich zu einem solchen scharfen Auge und zu einer so beseligenden Erkenntnis komme?“
„Nicht nur möglich, sondern wirklich!“
„Wieso?“
„Du selbst hast es bewiesen. Deine ersten Worte, als du hier heraufkamst, waren: ‚Welch ein Gotteswunder!‘ und ‚Allah ist groß!‘ Du hast also sofort und wiederholt in diesem Feuer, wenn auch nicht Gott erkannt und gesehen, aber doch seine Macht und sein Wirken herausgefühlt. Es wird –“
„Sei still! Sei still und schau!“ unterbrach er mich, indem er an das Geländer trat und seine ganze Aufmerksamkeit nach den Bergen richtete.
Dort dunkelte es für einen Augenblick, und dann begannen die gestrigen Erscheinungen sich in ganz genau derselben Art und Weise und in ganz genau derselben Reihenfolge abzuspielen, wie ich sie beschrieben habe.
„Das ist ja das Paradies!“ rief er aus, als sich die Feuermauer bildete und dann das große Tor öffnete. „Das ist ja die Sage der Ussul! Von der großen Engelsfrage, ob Friede auf Erden sei, und von dem Gott, der aus dem Paradies herniedersteigt, um – still, sei still, und störe mich nicht!“
Ich hatte gar nichts gesagt und auch nichts sagen wollen. Er sank wieder auf die Knie nieder, legte die Arme auf die Balustrade, faltete die
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