244 - Der dunkle Traum
sind allesamt anorganisch und die Lücken so schmal, dass Grao nicht durchschlüpfen kann.« Er tippte mit dem Zeigefinger auf eine Übersichtszeichnung. »Die Grundfläche des Gefängnisses beträgt zwanzig mal zwanzig Meter. Die Außenwände bestehen aus dicken Stahlplatten. Innerhalb dieser Platten befindet sich ein zweites, kuppelförmiges Bauwerk aus einem Meter dickem, gegossenen Beton. Es misst zwölf Meter im Durchmesser und ist sechs Meter hoch.«
»Beeindruckend…«, murmelte Rulfan, während ihm der Mut sank. Wie, bei allen Göttern, sollte er durch dieses Bollwerk zu Daa’tan durchdringen? Wie sollte er den Mörder töten, wenn er nicht an ihn herankam?
Victorius erklärte: »Hier sind Daa’tan und Grao in zwei nebeneinander liegenden Abteilungen untergebracht. Sie können sich zwar unterhalten, aber nicht zueinander kommen. Die Luftversorgung wird durch etliche fingerdicke Rohre gewährleistet. Sind Arbeiten im Kerker notwendig, betäuben wir die Gefangenen mit einem Gas, das durch eben diese Röhren eingeleitet wird. Die Arbeiter lassen sich dann durch eine Schleuse im Dach des Kuppelbaus in die Zellen hinab.«
»Ich verstehe«, meinte Aldous. »Wäre Grao wach, könnte er seinen Körper strecken oder sich in ein Flugwesen verwandeln, um die Höhe zu überwinden.«
»C’est ca! Da man dies aber nicht ständig riskieren kann, gibt es für die alltägliche Versorgung – Nahrung muss hineingeschafft und Unrat herausgeholt werden – je eine weitere Verbindung ins Innere der Zelle: ein ebenerdiger Schacht mit einer auf Rollen laufenden Kapsel, die mitsamt ihrem Inhalt verschoben werden kann; auch diese Öffnung so dimensioniert, dass Grao nicht hindurch schlüpfen kann.«
»Die beiden werden sich ganz schön langweilen«, grinste Rulfan.
»Sie dürfen Bücher lesen – das ist das Einzige, was mein Vater ihnen zugesteht.«
»Eine weise Entscheidung«, warf Aldous ein. »Bildung hat noch niemandem geschadet und festigt den Charakter.«
Victorius seufzte. »Leider machen beide nicht oft Gebrauch davon. Sie giften sich lieber durch die schmalen Öffnungen zwischen den Zellen hindurch an.«
»Eine beeindruckende Installation, mein Freund«, sagte Rulfan – und wunderte sich insgeheim, warum Aldous so gelassen blieb. Sah er die Probleme nicht, an Daa’tan heranzukommen? Verdammt, sie waren diesen weiten Weg nicht gegangen, um kurz vor dem Ziel aufzustecken. Daa’tan musste sterben, koste es was es wolle!
»Könnte man mich durch die Dachschleuse zu Daa’tan hinab lassen, damit ich mit ihm reden kann?«, fragte Rulfan in stiller Verzweiflung, obwohl er die Antwort und die damit verbundene Logik zu kennen meinte.
»Selbstverständlich könnte man das, Rulfan.« Victorius rollte die Pläne zusammen. »Aber es wäre viel zu gefährlich, dich einem nicht betäubten Daa’tan auszuliefern. Er würde dich als Geisel nehmen… oder töten!«
Rulfan nickte. In seinem Hirn arbeitete es. »Wie lange dauert es, bis das Gas wirkt?«
»Bei Daa’tan etwa vierzig Sekunden, bei Grao gute zwei Minuten«, gab Victorius Auskunft.
Rulfan nickte. »Wie wäre es dann damit: Wenn Daa’tan mir gefährlich wird, leitest du das Betäubungsgas in die Zelle. Ich muss ihm die Nachricht persönlich überbringen. Es ist ein Versprechen einem Freund gegenüber. Und Matt ist nicht nur ein Freund, er ist mein Blutsbruder!« Rulfans Blick wanderte zu Aldous. Der Alte machte einen zufriedenen Eindruck.
Victorius rieb das Kinn. »Das Risiko ist nicht kalkulierbar. Bis das Gas Wirkung zeigt, könnte Daa’tan dich –«
»Er wird mich nicht angreifen«, widersprach Rulfan. »Nicht bei dem, was ich ihm ausrichten soll. Du wirst sehen, danach wird er mich auch unbehelligt wieder abziehen lassen.«
Victorius blickte Aldous an, der immer noch still vor sich hin lächelte, und nickte schließlich, wobei er ein Gesicht zog, als habe er in eine Zitrone gebissen. »Na gut… Ich habe große Sorge, dass etwas schief geht, aber ich bin dir verpflichtet, Rulfan. Einem anderen würde ich diesen Wunsch nicht erfüllen.«
Der Mann aus Salisbury spürte Scham in sich aufsteigen und senkte den Blick, während Aldous sein triumphierendes Grinsen hinter einer Maske freundlichen Lächelns verbarg.
Victorius sagte mit finsterer Miene: »Ich kann meinen Routinegang heute etwas früher absolvieren. Lasst uns zum Kerker hinabfahren.«
***
Der Weg von der Ankerstation bis zum Gefängnisbau maß nur wenige hundert Meter; der Kaiser wollte
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