244 - Der dunkle Traum
einmal abnehmen?«
Zögernd kam Aldous der Bitte nach.
»Ich habe das Gefühl, dich zu kennen«, fuhr der Prinz fort. »Hast du vielleicht einen Bruder?«
Aldous grinste schief und setzte die Brille wieder auf. »Nein… nicht dass ich wusste.«
»Der Mann, an den ich mich erinnere, sah dir sehr ähnlich. Allerdings hatte er keine Tätowierungen und längere Haare. Ich habe ihn nur zwei- oder dreimal gesehen… glaube ich. Ich meine mich sogar an ein Gespräch mit ihm zu erinnern. Es ist noch gar nicht lange her… sechs oder sieben Monde, als wir gerade den Bau des Kerkers beendet hatten…« Er warf die Hände in Höhe. »Na ja… was soll’s? Es ist viel geschehen in der letzten Zeit. Viele Menschen haben meinen Weg gekreuzt, unzählige Gespräche wurden nach dem Anschlag auf Wimereux geführt – und die Welt ist voller Überraschungen, nicht wahr, Rulfan?« Er wandte sich wieder von Aldous ab, beugte sich vor und legte dem Albino eine Hand auf den Unterarm. »Habe ich dir schon gesagt, dass ich Vater geworden bin?«
Rulfan versuchte Victorius’ Begeisterung zu teilen und lachte gequält. »Sag bloß! Die Welt ist voller Überraschungen…« Er spürte die letzten fünf Tage Fußmarsch in den Knochen.
»Du bist müde, mon ami«, erkannte Victorius mitfühlend.
Aldous mischte sich wieder ein und stellte die eine oder andere Frage, die Victorius zuvorkommend beantwortete. Rulfan wehrte sich gegen die aufkeimende Schläfrigkeit und lauschte wie durch einen Schleier dem Gespräch, das Victorius nun mit Aldous führte. Die Stimme des Schamanen hatte einen monotonen, fast schon hypnotischen Klang angenommen. Rulfan gähnte, richtete sich kerzengerade auf, leerte sein Weinglas, das von einem Diener blitzartig wieder gefüllt wurde, und sagte mit etwas schwerer Zunge: »Ich muss Daa’tan sehen!«
»Daa’tan?« fragte Victorius ungläubig.
»Ja, ich muss Daa’tan sehen. Ich habe etwas mit ihm zu besprechen«, krächzte Rulfan. »Das ist einer der Gründe, warum wir hier sind.«
»Er hat etwas sehr Wichtiges mit ihm zu besprechen…«, fügte Aldous hinzu.
»Ja, Meister…«, bestätigte Rulfan leise und wandte sich wieder an Victorius. »Ich habe ihm etwas von seinem Vater – von Matt – auszurichten. Er gab mir den Auftrag, kurz bevor er mit Aruula und Yann Haggard aufbrach. Er sagte, wenn ein Jahr verstrichen sei…«
Bei Wudan!, dachte er gleichzeitig. Ich belüge meinen Freund! Das ist falsch…
»Nun…« Victorius’ linke Augenbraue zuckte nach oben. »Das Jahr ist zwar noch nicht ganz vorüber, aber grundsätzlich spricht natürlich nichts dagegen, dass du Daa’tan aufsuchst.« Sein Blick ging zwischen Rulfan und Aldous hin und her. Er öffnete den Mund, als wolle er noch eine Frage stellen, ließ es dann aber und klatschte in die Hände. »Lass uns morgen früh darüber reden. Ihr müsst sehr müde sein nach der langen Wanderung.«
»Ja«, bestätigte Rulfan. Aldous zog ein missmutiges Gesicht.
Die Tür öffnete sich und zwei Diener erschienen. »Unsere Gäste wollen sich zur Ruhe begeben. Bringt sie in ihre Gemächer«, befahl Victorius und nickte Rulfan und Aldous zu. »Ich wünsche euch eine gute Nacht. Wir sehen uns beim Frühstück.«
Geflissentliche Diener geleiteten die Gäste des Prinzen zu ihren Zimmern. Obwohl er todmüde war, fand Rulfan in dieser Nacht nur wenig Schlaf.
***
Victorius war ausgeruht und fit. Sein schwarzes Gesicht strahlte Zufriedenheit aus. Er war sportlich und dennoch elegant gekleidet. Rulfan dachte nicht zum ersten Mal bei sich, dass Kaiser de Rozier gut daran getan hatte, sich mit ihm zu versöhnen. Einen besseren Stellvertreter hätte er sich nicht wünschen können.
»Mein Vater ist gestern Nacht zurückgekehrt«, sagte Victorius zur Begrüßung. »Es war allerdings schon spät, und er ist gerade erst aufgestanden. Trotzdem möchte er dich gleich sehen, Rulfan.« Er wandte sich an Aldous. »Du wirst sicher Verständnis haben, wenn allein Rulfan die Ehre zuteil wird, den Kaiser in seinen Privatgemächern zu besuchen.«
Rulfan entging nicht, dass Aldous nervös hochschnellte.
»Du solltest in der Zwischenzeit nach Winda schauen«, meinte Rulfan und zog die Schultern hoch. »Wer weiß – vielleicht hat sie schon ein paar Bürger gefressen.« Das sollte witzig klingen, hatte aber einen scharfen Unterton. Aldous blickte über seine Sonnenbrille und Rulfan erkannte, dass der Meister ungehalten war. Sofort schlich sich ein schlechtes Gewissen in Rulfans
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