245 - Geisterstadt Washington
aus Aruulas Leib geraubt und unter dem Einfluss irgendwelcher manipulierten Pflanzen-Genen herangezüchtet. Mehr noch: Sie hatten den Jungen darauf abgerichtet, ihn – seinen Vater – zu töten.
Bei seinem plötzlichen Wiederauftauchen war keine Zeit gewesen, irgendwelche Vatergefühle zu entwickeln. Ihre wenigen Zusammentreffen gestalteten sich durchweg unerfreulich: Während Daa’tan ihn bis aufs Blut bekämpfte, blieb Matt nur die Defensive, um seinen Sohn nicht verletzen oder gar töten zu müssen.
Aruulas Gefühle dagegen waren die einer Mutter, die auch das missratenste Kind noch lieben konnte und nie die Hoffnung verlieren würde, dass es sich eines Tages besserte. Und auch Daa’tan schien einen Narren an seiner Mutter gefressen zu haben, denn warum sonst hätte er sie nach Afra entführen und sie zwingen sollen, mit ihm zu leben? Sein Daa’murenkumpel Grao war da wohl anderer Ansicht; er hatte Aruula in Ägypten von seinem Schützling getrennt und sie lebendig begraben.
Matthew Drax hob seinen Kopf und blickte zum Fenster. Über die Frontscheibe der Cockpitkanzel krochen tränenförmige Regentropfen. Dahinter waren die Bergkuppen in grauen Wolkenschwaden verschwunden. Er schlang seine Arme noch fester um Aruula. Von einem tiefen Bedürfnis erfüllt, ihr seine Liebe zu zeigen, sagte er eindringlich: »Wir werden uns nicht länger als nötig hier aufhalten, das verspreche ich dir. Dann holen wir Daa’tan.«
Vielleicht hätte er dieses Versprechen nicht so leichtfertig gegeben, wenn er geahnt hätte, wie lange sich dieses nicht länger als nötig hinziehen würde und welche Ungeheuerlichkeit unter den Wolken verborgen lag.
***
Waashton, Pentagonbunker
8. Juli 2525
Abseits von den Wohnunterkünften im Pentagonbunker stapften die beiden Androiden Miki Takeo und Shiro durch den verlassenen Schacht. Unter dem Gewicht ihrer schweren Plysteroxkörper dröhnte ihr Schrittlärm über den rissigen Bodenbelag. Sie trugen eine große Aluminiumbox zwischen sich. Zielstrebig folgten sie dem Gang, der zur angrenzenden U-Bahnhofshalle führte. Wie die meisten unbewohnten Bereiche des Bunkers lag er in völliger Dunkelheit. Um Energie zu sparen, hatte man die Lichtversorgung auf ein Minimum beschränkt. Es war stickig hier unten. Stickig und heiß.
Doch weder das fehlende Licht, noch die Temperaturen interessierten die beiden Androiden. Ihre optischen Systeme waren einzig und allein auf das Ende des unterirdischen Tunnelgangs ausgerichtet: Dort, wo eigentlich ein Metallschott mit hydraulischem Schließsystem sein sollte, war nur noch eine schrundige Wand auszumachen. Für ein menschliches Auge glich sie einer bemoosten Felsenwand mit Kuppen und beutelförmigen Ausbuchtungen. Für die Androiden war sie nicht weniger als eine todbringende, organische Masse, die die Sauerstoffzufuhr für die Menschen im Pentagon-Bunker nach und nach abschnitt. Wie eine zweite Haut hatte sie sich über das Schott geschoben.
Shiro zoomte den Deckenausschnitt über der Masse heran. Inzwischen hatte er eine gewisse Routine darin, die haarfeinen Risse zu orten, durch die die grünliche Substanz eindringen konnte. Oft genug hatten er und Takeo in den letzten Tagen die Bunkerwände abseits der Wohntrakte nach diesen Rissen abgesucht. In jeden Winkel, in jede Spalte, in jedes winzige Loch der Steine sickerte die Materie im plasmatischen Aggregatzustand. Sobald sie in einen Ruhezustand kam, erstarrte sie innerhalb kürzester Zeit zu einer harten Masse.
Es handelte sich dabei um die Körpersubstanz einer Spezies unbekannter Herkunft. Einer Spezies ohne bestimmbare Form und von vager Gattung. Sie war ihnen aus dem Dschungel in den Appalachen nach Waashton gefolgt und hatte Jagd auf alles gemacht, was sich bewegte. Jeder Versuch, sie zu zerstören, war bisher nicht nur fehlgeschlagen, sondern hatte darüber hinaus einen Wachstumsprozess der gefräßigen Kreatur bewirkt. [1]
Offensichtlich verfügte sie über eine gewisse Intelligenz: Was hier vor sich ging, entsprang einer bestimmten Absicht. Vor knapp drei Wochen hatte sich das inzwischen gigantische Wesen über das Pentagongebäude gestülpt und mit seinen Auswüchsen das unterirdische Gewölbe des WCA-Regierungssitzes in eine todbringende Falle verwandelt.
Shiro dachte an die rund zweihundert Waashtoner, die sich in den Bunker gerettet hatten. Die meisten von ihnen ahnten noch nichts von der neuen Gefahr, die ihnen drohte. Sie waren zu beschäftigt, sich mit den beengten Verhältnissen
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