2500 Kilometer zu Fuß durch Europa
Pilgerstab, und ich
habe die Ehre, den kleinen Zug nach Neydens zu
führen, dem ersten Dorf auf französischem Gebiet. Nach schwungvollen Reden des
Bürgermeisters, des Sponsors und des Dorfpfarrers findet hier die offizielle
Einweihung eines neuen Jakobsweg-Hinweisschildes statt. „Natürlich ist das
eigentlich Wichtige dabei das kostenlose Büffet“, raunt mir Arnaud, ein etwa
60-jähriger Pilger aus der Gruppe, zu. Die Vizepräsidentin findet die
Enthüllung dagegen „großartig, geradezu phantastisch, ein Zeichen für die
Wiederbelebung der Pilgertradition, aber wirklich...“. Wie erwartet dauert die
Einweihung keine Viertelstunde, das anschließende Gelage bei Häppchen und
selbstgebrautem Rosinenwein aus der Region ist jedoch auf zweieinhalb Stunden
angesetzt. Da ich auf meiner bisherigen Reise die löbliche Angewohnheit
angenommen habe, derartige Gelegenheiten ohne allzu viel Skrupel beim Schopf zu
packen, schlage ich mir hemmungslos den Bauch voll und nehme außerdem noch ein
paar der Häppchen als Proviant für unterwegs mit. Die Vizepräsidentin ist jetzt
voll in ihrem Element; sie wuselt herum und stellt mich überall als den Mann
vor, der „von Konstanz gekommen ist, also: von Konstanz, in Deutschland, wissen
Sie...“ und so weiter. Nach einer Viertelstunde höflichem Palaver verlasse ich
die Gruppe unauffällig, danke der Vizepräsidentin — „ach, Sie müssen schon
weiter, es war so nett, Sie kennen gelernt zu haben, also wirklich, so nett...“
— für die Häppchen und setze meinen Weg alleine fort.
Kurts Lebensgeschichte
Beim Abstieg zum ,Pont de Fier’ treffe ich einen Schweizer: Der erste Pilger, der einen bleibenden
Eindruck bei mir hinterlassen wird. Kurt hat die ersten 22 Jahre seines Lebens
in Liberia verbracht, bevor er bei einer schweizerischen Firma unterkam.
Täglich arbeitete er im Durchschnitt 10
Stunden, oftmals auch an den Wochenenden. Drei Jahre nach seinem Einstieg bei
der Firma konnte er sich ein eigenes Auto leisten, dann kaufte er auch je eines
für seine beiden Kinder. Im Berner Umland baute er sich ein Haus und legte
einen Garten an. Zehn Jahre lang leitete er die Firma. Eines Tages, an einem
Septembermorgen, erschien er zu spät zur Arbeit. Eine Kleinigkeit, eine
Bagatelle, aber dieser verspätete Arbeitsbeginn setze bei Kurt einen
Gedankenprozess in Gang, der ihn schrittweise von seinem bisherigen Leben
entfremdete. Plötzlich begann er sich zu fragen, ob neben seinem Alltag
vielleicht Alternativen existierten, die ungleich Reizvolleres für ihn bereit
hielten als sein geordnetes Leben in der Schweiz. Kurz nach seinem fünfzigsten
Geburtstag verkaufte er sein Haus, das Auto und das Handy und ging los. Seit
einer Woche ist er jetzt unterwegs. Er keucht unter der Last seines zu schweren
Rucksacks — ein Anfängerfehler, der mir nur allzu vertraut vorkommt - aber
gleichzeitig ist da etwas in seinen Augen, wenn er fast zärtlich auf den Weg
vor ihm blickt. Es ist etwas um seine Mundwinkel herum, wenn er lächelt und in
seiner Stimme, wenn er spricht, in ruhigen, klaren Sätzen, kein Zittern in den
Worten. Eine neue, große Zuversicht. Sein bisheriges Leben bereut er nicht,
aber er hat gemerkt, wann es Zeit war für einen Wechsel. Jetzt ist er es, der
bestimmt, wo es lang geht. Drei Stunden lang gehen wir zusammen. Wie ich will
er den gesamten Weg bis nach Galizien gehen, allerdings in gemächlichem Tempo.
Zudem verzichtet er vollkommen auf technische Hilfsmittel: kein Handy, keine
Taschenlampe und, ungewöhnlich für einen Schweizer, auch keine Uhr. Jeden Tag geht
er, soweit er kommt, und breitet dann seinen Schlafsack auf einer Luftmatratze
aus. Er hat vor, nach der Ankunft in Santiago den Camino del Norte , den Nordweg an der
spanischen Küste, zurückzugehen, um schließlich nach Großbritannien
auszuwandern, wo seine beiden Kinder leben. Als wir uns trennen, hat sich seine
Lebensgeschichte und mehr noch die Art, wie er vom Jakobsweg sprach, irgendwie
in meinem Gedächtnis verhakt, und entschlossener als zuvor setze ich meinen Weg
fort.
Der Jakobsweg verteilt Geschenke wie
dieses, doch er erteilt auch Sektionen. Er sorgt dafür, dass man seine Kräfte
realistisch einschätzt. Übereifer wird mit Muskelkater und Blasen sanktioniert.
Oder aber man lernt im Gegenteil erst hier seine Reserven kennen. Man stellt
fest, dass man 40 Kilometer gehen kann, auch wenn es heiß ist und der Rucksack
schmerzt. Am Tag darauf nimmt man sich 50 Kilometer vor und
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