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General Entrescu einen überraschenden Sprung und sprach von Flavius Josephus, dem intelligenten, feigen, klugen, schmeichlerischen Falschspieler Flavius Josephus, dessen Weltbild genau betrachtet viel komplexer und subtiler war als das Weltbild von Christus, aber sehr viel weniger subtil als das Weltbild derer, die ihm, wie es heißt, geholfen hatten, seine Geschichte ins Griechische zu übersetzen: Kleine griechische Philosophen und Lohnschreiber im Dienste des großen Lohnschreibers, die seinen unstrukturierten Texten Struktur verliehen, dem Ungehobelten Eleganz, die seinem Gestammel von Entsetzen und Tod ein vornehmes, mannhaftes und anmutiges Gepräge gaben.
Dann begann sich Entrescu die bezahlten Philosophen laut auszumalen, wie sie durch die Straßen Roms oder auf den Wegen hinunter zum Meer promenierten, wie sie dort am Wegesrand in ihre Mäntel gehüllt saßen und im Geist ein Bild der Welt entwarfen, wie sie in Hafenspelunken aßen, dunklen Löchern, die nach Meeresfrüchten und Gewürzen, Wein und Gebratenem rochen, bis sie verschwanden, genau wie Dracula verschwand, mit seiner blutigen Rüstung und seinen blutigen Kleidern, ein stoischer Dracula, der Seneca las oder sich an den Liedern der deutschen Minnesänger erfreute und dessen Heldentaten im Osten Europas nur jene gleichkamen, die in der Chanson de Roland besungen werden. Sowohl vom historischen, also politischen, als auch vom symbolischen, also poetischen, Standpunkt aus, seufzte Entrescu.
An dieser Stelle entschuldigte sich Entrescu, dass er sich von seiner Begeisterung habe forttragen lassen, und verstummte, ein Moment, den Popescu nutzte, um von einem rumänischen Mathematiker zu erzählen, der von 1865 bis 1936 gelebt und die letzten zwanzig Jahre seines Lebens damit verbracht hatte, nach »geheimnisvollen Zahlen« zu suchen, die, selbst unsichtbar, irgendwo in der weiten, für den Menschen sichtbaren Landschaft verborgen sind, die auch zwischen den Steinen oder zwischen zwei Zimmern und sogar zwischen zwei anderen Zahlen existieren können, eine alternative, zwischen die Sieben und die Acht geschmuggelte Mathematik sozusagen, die auf denjenigen wartet, der sie zu lesen und zu entziffern vermag. Das Problem war nur, dass man sie sehen musste, um sie entziffern, und entziffern musste, um sie sehen zu können.
Wenn der Mathematiker von Entziffern sprach, erklärte Popescu, meinte er eigentlich verstehen, und wenn er von Sehen sprach, meinte er eigentlich anwenden, zumindest glaube er das. Vielleicht zu Unrecht, sagte er nach kurzem Zögern. Auch seine Schüler, zu denen ich mich zähle, verstanden seine Worte falsch. Eines Nachts jedenfalls, was übrigens unvermeidlich war, verlor der Mathematiker den Verstand und musste in ein Irrenhaus gebracht werden. Popescu und zwei andere junge Leute aus Bukarest besuchten ihn dort. Zuerst erkannte er sie nicht, aber nach einiger Zeit, als er nicht mehr wie ein rasender Irrer aussah, sondern nur mehr wie ein gebrochener alter Mann, erinnerte er sich an sie, oder tat zumindest so, und lächelte sie an. Auf Drängen der Familie jedoch blieb er im Irrenhaus. Seine wiederholten Rückfälle ließen den Ärzten eine zeitlich unbefristete Internierung ratsam erscheinen. Wieder einmal kam Popescu ihn besuchen. Die Ärzte hatten ihm ein Heft gegeben, in das der Mathematiker die Bäume zeichnete, die die Klinik umgaben, Porträts seiner Mitpatienten und architektonische Skizzen der Häuser, die man vom Park aus sehen konnte. Eine Weile lang schwiegen sie sich an, bis Popescu beschloss, offen mit ihm zu sprechen. Mit der typischen Unbedachtheit junger Menschen sprach er den Wahnsinn oder vermeintlichen Wahnsinn seines Lehrers an. Der Mathematiker lachte. Wahnsinn gibt es nicht, sagte er. Aber Sie sind hier, sagte Popescu, und das hier ist eine Klinik für Wahnsinnige. Der Mathematiker schien ihm nicht zuzuhören. Der einzige Wahnsinn, den es gibt, wenn wir ihn so nennen können, ist eine Störung des chemischen Gleichgewichts, die sich mit chemischen Mitteln leicht beheben lässt.
»Aber Sie sind hier, lieber Professor, Sie sind hier, Sie sind hier«, schrie Popescu.
»Zu meiner eigenen Sicherheit«, sagte der Mathematiker.
Popescu verstand ihn nicht. Er dachte, er spräche mit einem unverbesserlichen, einem unheilbaren Irren. Er schlug die Hände vors Gesicht und verharrte so für unbestimmte Zeit. Einen Moment lang glaubte er einzuschlafen. Dann schlug er die Augen auf, rieb sich die Augen und sah vor sich
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