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Worte zu verstehen, die Worte, die Kruse ihm zuflüsterte, packte er ihn am Hals und drückte zu. Eine andere Hand legte sich ihm auf die Schulter. Es war die von Neitzke.
»Tu ihm nicht weh, Idiot«, sagte Neitzke.
Reiter ließ Kruses Hals los und hörte sich ihren Vorschlag an. Dann zog er sich eilig an und folgte den beiden. Sie verließen den Keller, der ihnen als Quartier diente, und durchquerten einen langen Flur, an dessen Ende der Soldat Wilke auf sie wartete. Wilke war ein kleiner Bursche, nicht größer als ein Meter achtundfünfzig, mit hagerem Gesicht und intelligentem Blick. Als sie bei ihm ankamen, begrüßten sie ihn mit Handschlag, denn so war Wilke, stets förmlich, und seine Kameraden wussten, dass man bei ihm das Protokoll einhalten musste. Dann gingen sie eine Treppe hinauf und öffneten eine Tür. Das Zimmer, in das sie gelangten, war leer und kalt, als hätte Dracula es gerade verlassen. Es befand sich nur ein alter Spiegel darin, den Wilke von der Steinwand nahm, woraufhin ein Geheimgang zum Vorschein kam. Neitzke holte eine Taschenlampe hervor und gab sie Wilke.
Fast eine Viertelstunde lang gingen sie treppauf und treppab, bis sie nicht mehr wussten, ob sie sich im höchsten Teil des Schlosses befanden oder auf einem anderen Weg in den Keller zurückgekehrt waren. Der Gang verzweigte sich alle zehn Meter, und Wilke, der voranging, verlief sich mehrmals. Während sie so gingen, flüsterte Kruse, etwas an den Gängen sei seltsam. Die anderen fragten, was er seltsam fände, und Kruse erwiderte, dass es keine Ratten gebe. Umso besser, sagte Wilke, ich hasse Ratten. Reiter und Neitzke pflichteten ihm bei. Ich mag Ratten auch nicht, sagte Kruse, aber in den Gängen eines Schlosses, vor allem wenn es so alt ist wie das hier, gibt es immer Ratten, und wir sind noch auf keine einzige gestoßen. Die anderen dachten schweigend über Kruses Beobachtung nach und sagten nach einer Weile, das sei nicht dumm. Es sei wirklich seltsam, dass sie noch keine einzige Ratte gesehen hätten. Schließlich blieben sie stehen und richteten die Taschenlampe nach vorn und nach hinten, auf die Decke und auf den Boden des Gangs, der wie ein Schatten schlängelnd vor ihnen herlief. Nirgends eine Ratte. Sie zündeten vier Zigaretten an, und jeder gab zum Besten, wie er es mit der Baroness von Zumpe treiben würde. Anschließend zogen sie schweigend weiter, bis sie ins Schwitzen gerieten und Neitzke sagte, die Luft sei verpestet.
Daraufhin sahen sie sich, Kruse an der Spitze, nach dem Rückweg um, und bald schon standen sie wieder im Zimmer mit dem Spiegel, wo Neitzke und Kruse sich von den anderen beiden verabschiedeten, die noch einmal in das Labyrinth zurückkehrten, aber diesmal schweigend, damit ihr Flüstern sie nicht wieder durcheinanderbrachte. Wilke bildete sich ein, Schritte zu hören, die hinter ihnen herschlichen. Reiter ging eine Weile mit geschlossenen Augen. Als sie schon nicht mehr dran glaubten, fanden sie, was sie suchten: Einen extrem schmalen Seitengang, der durch die scheinbar dicken, aber offensichtlich hohlen Mauern führte und in dem es Löcher oder Schlitze gab, durch die man einen fast perfekten Blick auf die dahinterliegenden Zimmer hatte.
Auf diese Weise sahen sie das von drei Kerzen erhellte Gemach des SS-Offiziers, der, noch wach, in einen Morgenrock gehüllt schreibend an einem Tisch neben dem Kamin saß. Sein Gesichtsausdruck wirkte verloren. Und obwohl es mehr nicht zu sehen gab, klopften sich Wilke und Reiter gegenseitig auf die Schulter, denn erst jetzt wussten sie, dass sie auf dem richtigen Weg waren. Sie gingen weiter.
Tastend fanden sie weitere Öffnungen. Von Mondlicht erhellte oder düstere Zimmer, in denen sie, wenn sie das Ohr an die löchrigen Wände legten, einen Schlafenden schnarchen oder seufzen hörten. Das nächste erleuchtete Zimmer war das von General von Berenberg. Eine einzige Kerze stand in einem Leuchter auf dem Nachttisch, und die Flamme flackerte, als hätte jemand das riesige Fenster des Gemachs offen gelassen, und warf geisterhafte Schatten, die anfangs die Stelle verbargen, wo sich der General befand, nämlich kniend und betend am Fußende des Himmelbetts. General von Berenberg hatte die Stirn in Falten gelegt, bemerkte Reiter, als lastete eine enorme Bürde auf seinen Schultern, nicht das Leben seiner Soldaten, keineswegs, auch nicht das Leben seiner Familie, nicht einmal sein eigenes, sondern die Bürde seines Gewissens, das erkannten Reiter und Wilke gut,
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