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konnte ihnen verborgen bleiben, dass sie alle Knochen im Leib gebrochen hatte? Ich sagte, sie sei gestorben. Woran gestorben, fragten sie mich. Am Kummer, sagte ich. Wenn jemand am Kummer stirbt, ist es, als hätte er alle Knochen gebrochen, Quetschungen am ganzen Körper und einen zerschmetterten Schädel. Das ist Kummer. Ich habe selbst eine ganze Nacht lang den Sarg gezimmert und sie am folgenden Tag begraben. Dann habe ich in Kempten den Papierkram erledigt. Ich will Ihnen nicht weismachen, die Beamten hätten das normal gefunden. Sie wunderten sich etwas. Ich sah ihre skeptischen Gesichter. Aber sie sagten nichts und trugen ihren Tod ein. Ich kehrte ins Dorf zurück und lebte fort. Für immer allein«, murmelte er nach einer langen Pause. »Wie es sein soll.«
»Warum erzählen Sie mir das?«, fragte Archimboldi.
»Damit Sie es der Frau Ingeborg weitererzählen. Ich will, dass Ihre Frau es erfährt. Ihretwegen erzähle ich es Ihnen, damit sie es erfährt. Abgemacht?«
»Einverstanden«, sagte Archimboldi, »ich werde es ihr erzählen.«
Nach Verlassen des Krankenhauses fuhren sie im Zug zurück nach Köln, konnten dort aber kaum drei Tage bleiben. Archimboldi fragte Ingeborg, ob sie ihre Mutter besuchen wolle. Ingeborg antwortete, es sei nicht ihre Absicht, ihre Mutter oder ihre Geschwister noch jemals wiederzusehen. Ich möchte reisen, sagte sie. Tags darauf beantragte Ingeborg ihren Pass, und Archimboldi lieh sich von Freunden Geld zusammen. Erst fuhren sie nach Österreich, dann in die Schweiz, und von der Schweiz hinüber nach Italien. Wie zwei Landstreicher besuchten sie Venedig und Mailand, machten auf der Hälfte zwischen beiden Städten halt in Verona, schliefen in der Pension, in der Shakespeare geschlafen hatte, aßen in der Trattoria, in der Shakespeare gegessen hatte und die heute Trattoria Shakespeare heißt, und gingen auch in die Kirche, die Shakespeare aufzusuchen pflegte, um zu meditieren oder mit dem Gemeindepfarrer Schach zu spielen, da Shakespeare, genau wie sie, kein Italienisch sprach, obwohl man kein Italienisch sprechen musste, um Schach zu spielen, auch kein Englisch, kein Deutsch, nicht einmal Russisch.
Und da es in Verona viel mehr nicht zu sehen gab, streiften sie durch Brescia, Padua, Vicenza und andere Städte entlang der Bahnstrecke, die Mailand mit Venedig verband, waren dann in Mantua und Bologna und verbrachten drei Tage in Pisa, wo sie sich wie Ertrinkende liebten, und schwammen im Meer bei Cecina und Piombino, der Insel Elba gegenüber, und besuchten Florenz und durchstreiften Rom.
Wovon sie lebten? Archimboldi, der bei seiner Arbeit als Türsteher der Bar in der Spenglerstraße viel gelernt hatte, beging wahrscheinlich kleinere Diebstähle. Amerikanische Touristen zu bestehlen war leicht. Italiener zu bestehlen nur ein klein wenig schwerer. Vielleicht bat Archimboldi den Verlag um einen weiteren Vorschuss und bekam ihn geschickt, vielleicht fuhr ihnen die Baroness von Zumpe für eine persönliche Übergabe des Geldes nach, von Neugier zerfressen, die Frau ihres ehemaligen Bediensteten kennenzulernen.
Das Treffen fand auf alle Fälle an einem öffentlichen Ort statt, und es erschien nur Archimboldi, der ein Bier trank, das Geld nahm, sich bedankte und ging. So zumindest schilderte es die Baroness ihrem Mann in einem langen Brief, geschrieben auf einem Schloss in Senigallia, wo sie vierzehn Tage lang ihre Haut in der Sonne bräunte und ausgiebig im Meer badete. Auf das Baden im Meer verzichteten Archimboldi und Ingeborg mittlerweile ganz oder verschoben es auf ein späteres Leben, denn Ingeborgs Gesundheit verschlechterte sich im Laufe des Sommers immer mehr, und die Möglichkeit, zurück in die Berge oder in ein Krankenhaus zu gehen, kam auf keinen Fall in Frage. Der beginnende September sah sie in Rom, beide mit kurzen Hosen in Wüstensand- oder Sanddünengelb, als wären sie Gespenster des Afrikakorps und hätten sich in die Katakomben der ersten Christen verirrt, öde Katakomben, in denen nur das unregelmäßige Tropfen einer benachbarten Kanalisation und Ingeborgs Husten zu hören war.
Bald jedoch reisten sie nach Florenz ab und schlugen sich von dort zu Fuß oder per Anhalter zur Adria durch. Damals war die Baroness gerade bei Mailänder Verlegern zu Gast, und von einem Café aus, das in jeder Hinsicht einer romanischen Kathedrale ähnelte, schrieb sie ihrem Mann einen Brief, informierte ihn über die Gesundheit ihrer Gastgeber, die sich gewünscht hätten, Bubis
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