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2666

2666

Titel: 2666 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roberto Bolaño
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verstehen?«, sagte Archimboldi.
    »Sieh dir die Sterne an«, sagte Ingeborg.
    Er hob den Blick: Es waren wirklich viele Sterne, dann sah er wieder Ingeborg an und zuckte die Schultern.
    »Ich bin nicht so klug«, sagte er, »das weißt du«.
    »All das Licht ist tot«, sagte Ingeborg. »All das Licht wurde vor Hunderten Millionen Jahren ausgesandt. Es ist die Vergangenheit, verstehst du? Als das Licht dieser Sterne ausgesandt wurde, gab es uns noch nicht, gab es überhaupt noch kein Leben auf der Erde, nicht einmal die Erde selbst gab es. Dieses Licht wurde vor langer Zeit ausgesandt, verstehst du? Es ist die Vergangenheit, wir sind von der Vergangenheit umgeben, was es nicht mehr gibt oder nur in der Erinnerung oder in Vermutungen gibt, ist jetzt dort über uns und beleuchtet die Berge und den Schnee, und wir können nichts daran ändern.«
    »Ein altes Buch ist auch die Vergangenheit«, sagte Archimboldi, »ein 1789 geschriebenes und veröffentlichtes Buch ist die Vergangenheit, seinen Autor gibt es nicht mehr, genauso wenig seinen Drucker und seine ersten Leser oder die Epoche, in der es entstand, aber das Buch, die Erstausgabe dieses Buches ist noch da. Wie die Pyramiden der Azteken«, sagte Archimboldi.
    »Ich hasse Erstausgaben und Pyramiden, und ich hasse auch diese blutrünstigen Azteken«, sagte Ingeborg. »Aber das Licht der Sterne macht mich ganz verrückt. Sie bringen mich zum Weinen«, sagte Ingeborg mit vor Wahnsinn feucht glänzenden Augen.
    Mit einer Geste wies sie Archimboldis Hand zurück und ging dann in Richtung Grenzposten, der aus einer kleinen einstöckigen Holzhütte bestand, aus deren Kamin ein dünner schwarzer Rauchfaden aufstieg, der sich im Nachthimmel verlor, sowie aus einem Schlagbaum, an dem ein Schild hing mit dem Hinweis, dass das hier die Grenze sei.
    Neben der Hütte gab es eine ringsum offene Überdachung, unter der ein kleiner Lieferwagen stand. Es brannte kein Licht, nur der schwache Schein einer Kerze drang durch den schlecht geschlossenen Vorhang eines Fensters im ersten Stock.
    »Lass uns schauen, ob sie etwas Warmes für uns haben«, sagte Archimboldi und klopfte an die Tür.
    Niemand öffnete. Er klopfte noch einmal, diesmal kräftiger. Der Grenzposten schien verlassen. Ingeborg, die außerhalb des Vordachs auf ihn wartete, hatte die Hände vor der Brust gekreuzt, und ihr Gesicht hatte alle Farbe verloren und war so weiß wie Schnee. Archimboldi ging um die Hütte herum. Auf der Rückseite gab es neben aufgeschichtetem Brennholz eine Hundehütte von beträchtlicher Größe, aber keinen Hund weit und breit. Als er zum Vordereingang zurückkehrte, stand Ingeborg noch immer da und betrachtete die Sterne.
    »Ich glaube, die Grenzer sind fort«, sagte Archimboldi.
    »Da ist Licht«, sagte Ingeborg, ohne ihn anzusehen, und Archimboldi wusste nicht, ob sie das Licht der Sterne meinte oder das im ersten Stock.
    »Ich werde ein Fenster einschlagen«, sagte er. Er suchte am Boden nach etwas Hartem, fand aber nichts, weshalb er einen Fensterladen öffnete und dann mit dem Ellbogen eine Glasscheibe zertrümmerte. Anschließend entfernte er vorsichtig die restlichen Glassplitter und öffnete das Fenster.
    Ein schwerer, dumpfer Geruch schlug ihm ins Gesicht, als er sich durchs Fenster schob. Im Innern der Hütte war alles dunkel, nur vom Kamin kam ein mattes Glimmen. In einem Sessel daneben sah er einen Grenzbeamten mit aufgeknöpfter Jacke und geschlossenen Augen, der zu schlafen schien, aber in Wirklichkeit nicht schlief, sondern tot war. Im Zimmer nebenan entdeckte er, ausgestreckt auf einer Pritsche, einen weißhaarigen Mann in weißem Hemd und langer weißer Unterhose.
    In dem Zimmer im ersten Stock, in dem sich die Kerze verzehrte, deren Licht sie vom Weg aus gesehen hatten, war niemand. Es war nur ein Zimmer mit einem Bett, einem Tisch, einem Stuhl und einem kleinen Regal, in dem mehrere Bücher, mehrheitlich Western, aufgereiht standen. Mit raschen, aber umsichtigen Schritten ging Archimboldi einen Besen und eine Zeitung holen, fegte dann die Scherben der eingeschlagenen Scheibe auf und ließ sie anschließend durch das Loch im Fenster nach draußen fallen, als hätte einer der Toten - von innen, nicht von außen - sie eingeschlagen. Dann schlüpfte er hinaus, ohne etwas anzufassen, nahm Ingeborg in den Arm, und so, Arm in Arm, kehrten sie ins Dorf zurück, während die ganze Vergangenheit des Universums auf sie herabfiel.
    Am nächsten Tag konnte Ingeborg nicht aufstehen. Sie

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