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die sich nichts von der Welt erhoffen.
Zehn Minuten später schreckte Archimboldi aus dem Schlaf und stellte fest, dass Ingeborg nicht neben ihm lag. Er zog sich etwas an, suchte nach ihr im Bad, in der Küche und in der Wohnstube und ging dann Leube wecken. Der schlief wie ein Baumstamm, und Archimboldi musste ihn mehrmals schütteln, bis der Bauer ein Auge aufschlug und ihn starr vor Schreck ansah.
»Ich bin es«, sagte Archimboldi, »meine Frau ist verschwunden.«
»Gehen Sie sie suchen«, sagte Leube.
Das Nachthemd des Bauern zerriss fast unter Archimboldis Griff.
»Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll.«
Dann kehrte er in sein Zimmer zurück, zog sich Stiefel und Jacke an, und als er wieder unten war, traf er Leube, ungekämmt, aber ausgehfertig. Als sie im Dorfkern ankamen, gab Leube ihm eine Laterne und sagte, es sei besser, wenn sie sich trennten. Archimboldi nahm den Weg ins Gebirge, Leube den hinunter ins Tal.
Als er zur Wegbiegung kam, glaubte Archimboldi laute Rufe zu hören. Er blieb stehen. Das Rufen wiederholte sich, es schien aus der Tiefe der Felsspalten aufzusteigen, aber Archimboldi begriff, dass es Leube war, der auf dem Weg ins Tal Ingeborgs Namen rief. Ich werde sie nie wiedersehen, dachte Archimboldi zitternd vor Kälte. In der Eile hatte er vergessen, Handschuhe und Schal anzuziehen, und wie er jetzt in Richtung Grenzposten stieg, froren ihm Hände und Gesicht ein, so dass er sie bald nicht mehr spürte, weshalb er von Zeit zu Zeit stehen blieb, in die Hände blies oder sie gegeneinanderrieb und sich ins Gesicht kniff, ohne Erfolg.
Leube Rufe wurden immer seltener, bis sie schließlich ganz erstarben. Hin und wieder bildete er sich ein, er sähe Ingeborg am Wegrand sitzen und in den Abgrund schauen, der sich zu einer Seite auftat, aber als er näher kam, erkannte er, dass es ein Felsen war oder eine kleine, vom Schneesturm geknickte Fichte, was er gesehen hatte. Auf halbem Weg gab die Taschenlampe den Geist auf und er verstaute sie in einer Jackentasche, obwohl er sie am liebsten in die verschneiten Hänge geschleudert hätte. Im Übrigen schien der Mond so hell, dass man den Weg auch ohne Lampe gut erkennen konnte. Gedanken an Selbstmord und Unfall gingen ihm durch den Kopf. Er verließ den Weg und prüfte die Trittfestigkeit des Schnees. An einigen Stellen sank er bis zu den Knöcheln ein. An anderen, näher dem Abgrund zu, versank er bis zur Hüfte. Er stellte sich Ingeborg vor, wie sie achtlos drauflosstürmte. Sah sie auf eine Klamm zusteuern. Einen falschen Schritt tun. Fallen. Er tat dasselbe. Das Mondlicht jedoch beleuchtete nur den Weg: Am Grund der Schluchten herrschte Schwärze, eine gestaltlose Schwärze, in der undeutliche und ununterscheidbare Massen und Schemen dräuten.
Er ging zurück zum Weg und folgte ihm weiter bergan. Irgendwann merkte er, dass er schwitzte. Es war ein Schweiß, der ihm warm aus den Poren drang, der sich schlagartig in einen kalten Film verwandelte, der durch nachströmenden warmen Schweiß verdrängt wurde ... Jedenfalls hörte er auf zu frieren. Als er den Grenzposten schon fast erreicht hatte, sah er Ingeborg an einen Baum gelehnt unbeweglich in den Himmel schauen. Ingeborgs Hals, ihr Kinn, die Wangenknochen schimmerten wie von einem weißen Wahnsinn berührt. Er lief auf sie zu und umarmte sie.
»Was tust du hier?«, fragte Ingeborg.
»Ich hatte Angst«, sagte Archimboldi.
Ingeborgs Gesicht war kalt wie Eis. Er küsste ihre Wangen, bis sie sich aus seiner Umarmung wand.
»Sieh dir die Sterne an, Hans«, sagte sie.
Archimboldi gehorchte. Der Himmel war übersät mit unzähligen Sternen, mehr, als sie in den Nächten in Kempten gesehen hatten, und unendlich viel mehr, als selbst in den klarsten Nächten in Köln zu sehen waren. Ein wunderschöner Himmel, Liebes, sagte Archimboldi und versuchte ihre Hand zu nehmen und sie zurück zum Dorf zu ziehen, aber Ingeborg klammerte sich an einen Ast, als wäre alles ein Spiel, und wollte nicht mitkommen.
»Ist dir klar, wo wir sind, Hans?«, sagte sie lachend, mit einem Lachen, das in Archimboldis Ohren klang wie ein eisiger Wasserfall.
»In den Bergen, Liebes«, sagte er, ohne ihre Hand loszulassen, in dem vergeblichen Versuch, sie erneut in den Arm zu nehmen.
»In den Bergen, ja«, sagte Ingeborg, »aber gleichzeitig sind wir an einem Ort, umgeben von Vergangenheit. All diese Sterne«, sagte sie, »wie ist es möglich, dass du das nicht verstehst, wo du doch so klug bist?«
»Was soll ich
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