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hatte vierzig Grad Fieber, und am Nachmittag begann sie zu phantasieren. Mittags, während sie schlief, sah Archimboldi von ihrem Zimmerfenster aus einen Krankenwagen in Richtung Grenzstation fahren. Kurz darauf kam ein Polizeiauto vorbei, und rund drei Stunden später sah er den Krankenwagen mit seiner Ladung Leichen nach Kempten zurückkehren, während das Polizeiauto erst um sechs Uhr wieder auftauchte, als es schon dunkel war. Es hielt am Ortseingang, wo die Polizisten mit einigen Dorfbewohnern sprachen.
Wahrscheinlich dank Leubes Fürsprache wurden sie nicht behelligt. Am Nachmittag fiel Ingeborg ins Delirium, und noch am gleichen Abend brachte man sie ins Krankenhaus nach Kempten. Leube kam nicht mit, aber am nächsten Morgen, als Archimboldi im Eingangsbereich des Krankenhauses eine Zigarette rauchte, tauchte er auf, in einer uralten, abgewetzten Lodenjacke, die dennoch eine gewisse feierliche Würde ausstrahlte, dazu Schlips und robuste Stiefel, die handgenäht aussahen.
Sie sprachen eine Weile miteinander. Leube sagte, niemand im Dorf wisse von Ingeborgs nächtlicher Flucht, und Archimboldi solle, wenn er gefragt werde, besser nichts sagen. Dann erkundigte er sich, ob die Patientin (er sagte wirklich: Die Patientin) gut versorgt worden sei, allerdings in einem Ton, als könne daran gar kein Zweifel sein, fragte nach dem Essen, nach der verabreichten Medizin und brach dann urplötzlich auf. Bevor er wortlos ging, drückte er Archimboldi ein in billiges Papier gewickeltes Paket in die Hand, das ein ordentliches Stück Käse, Brot und zwei Sorten Eingemachtes enthielt, von der gleichen Art wie das, was sie jeden Abend bei ihm aßen.
Archimboldi hatte keinen Hunger, und als er den Käse und das Eingemachte sah, verspürte er den unwiderstehlichen Drang, sich zu übergeben. Aber er wollte das Essen nicht wegschmeißen und verwahrte es schließlich in Ingeborgs Nachtschränkchen. Die Kranke begann am Abend wieder zu delirieren und erkannte Archimboldi nicht. Im Morgengrauen spuckte sie Blut, und als man sie zum Röntgen holte, schrie sie, er solle nicht weggehen, er dürfe nicht zulassen, dass sie in einem so erbärmlichen Krankenhaus stürbe. Das werde ich nicht, sagte Archimboldi im Flur, während sich die Krankenschwestern mit dem Bett entfernten, in dem Ingeborg wild gestikulierte. Nach drei Tagen begann das Fieber zu sinken, wogegen Ingeborgs Stimmungsschwankungen deutlich zulegten.
Sie sprach kaum ein Wort mit Archimboldi, und wenn sie es tat, dann um ihn zu bestürmen, sie von dort wegzubringen. In ihrem Zimmer lagen noch zwei andere Lungenkranke, die bald zu erbitterten Feindinnen von Ingeborg wurden. Ihrer Ansicht nach waren sie nur neidisch, weil sie aus Berlin kam. Nach vier Tagen hatten die Schwestern von Ingeborg genug, und wie sie so still im Bett saß, mit ihrem langen, über die Schultern herabhängenden glatten Haar, sah mancher Arzt sie an, als wäre sie eine Verkörperung der Nemesis. Einen Tag vor ihrer Entlassung tauchte noch einmal Leube im Krankenhaus auf.
Er trat ins Zimmer, stellte Ingeborg ein paar Fragen und überreichte ihr dann genau so ein Päckchen, wie er es vor Tagen Archimboldi gegeben hatte. Die restliche Zeit schwieg er, saß steif auf seinem Stuhl und warf ab und zu neugierige Blicke auf die anderen beiden Kranken und deren Besucher. Als er ging, sagte er zu Archimboldi, er wolle mit ihm allein sprechen, aber Archimboldi hatte keine Lust, mit Leube zu reden, darum blieb er im Flur stehen, statt sich mit ihm in das Restaurant des Krankenhauses zu setzen, was Leube, der gehofft hatte, sich mit ihm in vertraulicherer Umgebung unterhalten zu können, irritierte.
»Ich wollte Ihnen nur sagen«, sagte der Bauer, »dass Ihre Frau recht hatte. Ich habe meine Frau ermordet. Ich habe sie in eine Schlucht gestoßen. In die Marienschlucht. Falls ich mich recht erinnere. Vielleicht auch in die Blumenschlucht. Jedenfalls habe ich sie in eine Schlucht gestoßen, habe ihren Körper stürzen sehen, an Vorsprüngen und auf Steinen zerschellend. Dann öffnete ich die Augen und suchte sie. Und dort unten lag sie. Ein Farbtupfer zwischen grauen Steinen. Lange stand ich da und sah zu ihr hinab. Ich stieg hinunter, warf sie mir über die Schulter und stieg mit ihr nach oben, aber sie wog nichts mehr, es war, als trüge man ein Bündel Reisig. Ich betrat mein Haus durch den Hintereingang. Niemand hatte mich gesehen. Ich wusch sie behutsam, zog ihr frische Kleider an, legte sie ins Bett. Wie
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