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Archimboldi, wie er in einem kurzen, dem Manuskript beigefügten Brief schrieb, zwischenzeitlich als Gärtner gearbeitet hatte, was Bubis für einen Scherz hielt, denn mit etwas Mühe mochte man in jeder italienischen Stadt Arbeit als Gärtner finden, in Venedig sicher nicht. Die Antwort des Verlegers folgte jedenfalls auf dem Fuße. Er schrieb noch am selben Tag, fragte, wie hoch der Vorschuss sein solle, und bat um eine verlässliche Adresse, an die er das Geld schicken könne, sein Geld, das sich in den letzten vier Jahren peu a peu angesammelt habe. Archimboldis Antwort fiel noch knapper aus. Er nannte eine Adresse in Cannaregio und verabschiedete sich mit den üblichen Floskeln und Wünschen - der Dezember neigte sich bereits dem Ende zu - für ein gutes neues Jahr an Bubis und seine Frau Gemahlin.
In jenen Tagen, sehr kalten Tagen in allen Teilen Europas, las Bubis das Manuskript von Erbschaft, und so chaotisch der Text auch war, erfüllte er ihn unterm Strich mit großer Zufriedenheit, da Archimboldi alle Erwartungen erfüllte, die er in ihn gesetzt hatte. Welche Erwartungen waren das? Bubis wusste es nicht und wollte es gar nicht wissen. Sicher keine Erwartungen, die sein literarisches Handwerkszeug betrafen, etwas, das sich jeder Schreiberling aneignen konnte, auch nicht seine Fabulierkunst, die für ihn seit dem Erscheinen von Die grenzenlose Rose außer Zweifel stand, genauso wenig seine Fähigkeit, die erstarrte deutsche Sprache mit neuem Leben zu erfüllen, was nach Bubis' Urteil zwei Dichter und drei oder vier Erzähler leisteten, von denen einer Archimboldi hieß. Aber das war es nicht. Was war es dann? Bubis wusste es nicht, ahnte es so ungefähr, und es nicht zu wissen stellte für ihn auch überhaupt kein Problem dar, schon weil die Probleme vielleicht genau dann begannen, wenn man es wusste, und er war Verleger, und die Wege des Herrn waren sicher bloß verworren.
Da die Baroness sich damals gerade in Italien aufhielt, wo sie einen Geliebten hatte, rief Bubis sie an und bat sie, Archimboldi zu besuchen.
Liebend gern wäre er selbst gefahren, aber die Jahre hatten ihre Spuren hinterlassen, und Bubis war nicht mehr in der Lage, so zu reisen, wie er es jahrzehntelang getan hatte. So also war es die Baroness, die eines Morgens in Venedig erschien, in Begleitung eines römischen Ingenieurs, der etwas jünger war als sie, ein hübscher, schlanker Bursche, braungebrannt, den die Leute mal Architekt, mal Doktor nannten, obwohl er bloß Ingenieur war, Straßenbauingenieur, und ein Verehrer von Moravia, den er einmal zusammen mit der Baroness zu Hause besucht hatte, um ihr Gelegenheit zu geben, den Romancier während einer Abendgesellschaft kennenzulernen, die in seinem großzügigen Haus stattfand, wo man bei Einbruch einer Dunkelheit voller Lichtkegel einen guten Blick auf die Ruinen eines antiken Zirkus, vielleicht auch Tempels hatte, auf Grabhügel und angestrahlte Steine, die zu verwechseln und zu verschleiern das Licht gleichermaßen beitrug und die Moravias Gäste lachend oder den Tränen nahe von der breiten Terrasse des Romanciers aus betrachteten. Eines Romanciers, der die Baroness nicht beeindruckte oder zumindest nicht in dem Maße, wie ihr Liebhaber erwartet hatte, in dessen Augen Moravia jemand war, der für die Ewigkeit schrieb, dennoch ging er ihr in den folgenden Ta- gen nicht aus dem Kopf, vor allem, nachdem sie den Brief von ihrem Mann erhalten hatte und mit ihrem Ingenieur und Moravia-Verehrer ins winterliche Venedig reiste, wo sie ein Zimmer im Danieli bezogen, das die Baroness, nachdem sie geduscht und sich umgezogen hatte, ohne zu frühstücken verließ, allein und mit unerklärlicher Eile, ihr schönes Haar ungekämmt.
Archimboldis Adresse befand sich in der Calle Turlona in Cannaregio, und die Baroness nahm aus gutem Grund an, die Straße könne nicht allzu weit vom Bahnhof oder aber nicht allzu weit von der Kirche Madonna dell'Orto entfernt sein, in der Tintoretto sein Leben lang gearbeitet hatte. Sie nahm also in San Zaccaria einen Vaporetto, ließ sich, in Gedanken versunken, über den Canale Grande setzen, stieg gegenüber der Bahnstation aus und lief los und fragte und dachte unterdessen an Moravias Augen, sehr attraktive Augen, und an Archimboldis Augen, und dabei wurde ihr schlagartig bewusst, dass sie keine Erinnerung an sie besaß, dachte auch, wie verschieden doch beider Leben waren, das Moravias und das Archimboldis, der eine bürgerlich, vernünftig und auf der Höhe
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