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2666

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Titel: 2666 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roberto Bolaño
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Uniform, und keiner schien mit großer Begeisterung dorthin zu gehen, wohin sie gingen, doch auf Lottes Frage antworteten alle höflich, dass sie ihren Bruder weder kannten noch gesehen hatten.
    Die zweite Kolonne bestand aus geisterhaften Gestalten, eben dem Friedhof entsprungenen Leichen, Gespenstern in grauen oder grüngrauen Uniformen und Stahlhelmen, für aller Augen unsichtbar außer für Lotte, die ihre Frage wiederholte, auf die einige der Vogelscheuchen die Güte hatten zu antworten, indem sie sagten, ja, sie hätten ihn auf sowjetischem Gebiet gesehen, fliehend wie ein Feigling, hätten ihn im Dnjepr schwimmen und dann ertrinken sehen, was er reichlich verdient habe, hätten ihn in der kalmückischen Steppe gesehen, Wasser trinkend wie ein Verdurstender, hätten ihn versteckt in einem Wald in Ungarn gesehen, grübelnd, wie er sich mit dem eigenen Gewehr erschießen könnte, hätten ihn vor einem Friedhof gesehen, den Scheißkerl, zu feige, ihn zu betreten, weshalb er außenherum geschlichen sei, bis die Nacht hereinbrach und der Friedhof sich von Angehörigen leerte, und erst da sei die alte Schwuchtel nicht mehr außen herumgelaufen, sondern habe sich an der Mauer hochgezogen, die genagelten Stiefel in die roten, bröckelnden Ziegelsteine gekeilt, die Nase und die blauen Augen auf die andere Seite geschoben, auf die Seite der Toten, wo die Grotes und Kruses lagen, die Neitzkes und Kunzes, die Barz' und Wilkes, die Lemkes und Noacks, auf die Seite, auf der sich der stille Ladenthin und der tapfere Voß befanden, und sei dann, mutig geworden, auf die Mauer geklettert und habe eine Weile seine langen Beine baumeln lassen, habe dann den Toten die Zunge rausgestreckt, habe dann den Helm ausgezogen und beide Hände gegen die Schläfen gepresst, habe dann die Augen geschlossen und geschrien, sagten die Gespenster zu Latte, lachten dabei und liefen hinter der Kolonne der Lebenden her.
    Lottes Eltern ließen sich daraufhin in Lübeck nieder, zusammen mit anderen Leuten aus ihrem Dorf, der Einbeinige sagte aber, die Russen würden bis hierher kommen, nahm seine Familie und zog weiter gen Westen, und von da an verlor Lotte jedes Zeitgefühl, die Tage glichen den Nächten und die Nächte den Tagen, und manchmal glichen die Tage und Nächte nichts, war alles ein Kontinuum blendender, blitzlichtartiger Helligkeit.
    Eines Nachts sah Lotte einige Schatten um das Radio herumsitzen. Einer der Schatten war ihr Vater. Ein anderer war ihre Mutter. Wieder andere hatten Augen und Nasen und Münder, die sie nicht kannte. Münder wie Möhren mit geschälten Lippen, Nasen wie feuchte Kartoffeln. Alle hatten sich Tücher oder Decken über den Kopf und die Ohren gezogen, und im Radio sagte eine Männerstimme, Hitler existiere nicht mehr, das heiße, er sei tot. Aber nicht existieren war nicht dasselbe wie tot sein, dachte Lotte. Bis jetzt hatte ihre erste Monatsblutung auf sich warten lassen. An diesem Tag jedoch hatte sie morgens zu bluten begonnen, und sie fühlte sich nicht gut. Die Einäugige hatte zu ihr gesagt, das sei normal, früher oder später bekämen das alle Frauen. Mein Bruder der Riese existiert nicht, dachte Lotte, aber das heißt nicht, dass er tot ist. Die Schatten bemerkten ihre Anwesenheit nicht. Einige seufzten. Andere vergossen Tränen.
    »Mein Führer, mein Führer«, wehklagten sie, ohne die Stimme zu heben, wie Frauen, die noch keine Menstruation gehabt hatten.
    Ihr Vater weinte nicht. Ihre Mutter aber weinte, wobei ihr die Tränen ausschließlich aus dem gesunden Auge liefen.
    »Er existiert nicht mehr«, sagten die Schatten, »er ist schon tot.«
    »Gestorben wie ein Soldat«, sagte einer der Schatten.
    »Er existiert nicht mehr.«
    Dann gingen sie nach Paderborn, wo ein Bruder der Einäugigen wohnte, aber als sie ankamen, war das Haus von Flüchtlingen besetzt, und sie gesellten sich dazu. Vom Bruder der Schwester keine Spur. Ein Nachbar sagte, er müsste sich sehr irren, wenn sie ihn je wiedersehen würden. Eine Zeitlang lebten sie von der Fürsorge, von dem, was die Engländer ihnen schenkten. Dann erkrankte der Einbeinige und starb. Es war sein letzter Wunsch, mit militärischen Ehren in seinem Dorf beerdigt zu werden, und die Einäugige und Lotte versprachen es, ja, ja, das machen wir, dennoch wurden seine sterblichen Überreste dem Massengrab des Paderborner Friedhofs überantwortet. Für Zimperlichkeiten war keine Zeit, obwohl Lotte den Verdacht hatte, dass gerade jetzt die Zeit für

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