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der Lyrik-Reihe des Verlags übertragen hatte. Letztlich aber blieb es bei Hirngespinsten und Gerüchten.
»Ich werde niemals sterben«, sagte die Baroness einmal zu Archimboldi. »Oder ich sterbe mit fünfundneunzig, was das Gleiche ist wie niemals sterben.«
Das letzte Mal trafen sie sich in einer italienischen Geisterstadt.
Baroness von Zumpe trug einen weißen Hut und ein Stöckchen. Sie erzählte vom Nobelpreis und zog über die verschwundenen Schriftsteller her, eine Marotte oder eine Angewohnheit oder ein Spaß, etwas, das eher nach Amerika als nach Europa passte. Archimboldi trug ein kurzärmliges Hemd und hörte ihr aufmerksam zu, da er allmählich schwerhörig wurde, und lachte.
Und schließlich kommen wir zu Archimboldis Schwester, Lotte Reiter.
Lotte wurde 1930 geboren, war blond und blauäugig wie ihr Bruder, wuchs aber nicht im gleichen Maße wie er. Als Archimboldi in den Krieg zog, war Lotte neun und wünschte sich nichts so sehr, wie dass er Urlaub bekäme und mit einer Brust voller Orden zu Hause erschiene. Manchmal hörte sie ihn in ihren Träumen. Die Schritte eines Riesen. Große, in den größten Stiefeln der Wehrmacht steckende Füße, so groß, dass man extra für ihn welche anfertigen musste, die über Land stampften, ohne auf Pfützen oder Brennnesseln zu achten, in gerader Linie auf das Haus zu, in dem sie und ihre Eltern schliefen.
Wenn sie erwachte, fühlte sie eine so große Traurigkeit, dass sie sich zusammenreißen musste, um nicht zu weinen. Andere Male träumte sie, auch sie zöge in den Krieg, nur um dann auf dem Schlachtfeld den durchsiebten Körper ihres Bruders zu finden. Hin und wieder erzählte sie diese Träume ihren Eltern.
»Das sind nur Träume«, sagte die Einäugige, »träum nicht solche Träume, mein Kätzchen.«
Der Einbeinige dagegen fragte sie nach bestimmten Einzelheiten, zum Beispiel nach den Gesichtern der toten Soldaten. Wie waren sie, wie sahen sie aus, schienen sie zu schlafen? Und Lotte antwortete, ja, genau, sie schienen zu schlafen, woraufhin der Vater den Kopf schüttelte und sagte: Dann waren sie nicht tot, kleine Lotte, die Gesichter von toten Soldaten, wie soll ich es erklären, sind immer schmutzig, so als hätten sie den ganzen Tag hart gearbeitet und nach Beendigung ihres Tagwerks keine Zeit gefunden, sich das Gesicht zu waschen.
Im Traum jedoch hatte ihr Bruder immer ein vollkommen sauberes Gesicht und einen traurigen, aber entschlossenen Gesichtsausdruck, als wäre er, obschon tot, noch zu vielen Dingen imstande. Im Grunde glaubte Lotte, dass ihr Bruder zu allem imstande sei. Und immer horchte sie, ob sie nicht seine Schritte hörte, die Schritte eines Riesen, der sich eines Tages der Ortschaft nähern würde, sich dem Haus nähern würde, sich dem Garten nähern würde, wo sie auf ihn wartete, und der zu ihr sagen würde, der Krieg sei vorbei, er bleibe jetzt für immer zu Hause, und von nun an werde alles anders. Aber was würde anders werden? Sie wusste es nicht.
Der Krieg nahm übrigens kein Ende, und die Besuche ihres Bruders wurden immer seltener, bis sie ganz ausblieben. Eines Nachts sprachen ihre Mutter und ihr Vater über ihn, ohne zu wissen, dass sie in ihrem Bett, bis zur Nasenspitze unter einer hellbraunen Decke, noch wach war und ihnen zuhörte, sprachen über ihn, als wäre er schon tot. Aber Lotte wusste, dass ihr Bruder nicht tot war, weil Riesen niemals sterben, dachte sie, oder erst sterben, wenn sie sehr alt sind, so alt, dass man nicht einmal merkt, dass sie gestorben sind, sie setzen sich einfach vor ihre Haustür oder unter einen Baum und schlafen ein, und dann sind sie tot.
Eines Tages mussten sie ihr Dorf verlassen. Ihre Eltern meinten, etwas anderes bliebe ihnen nicht übrig, weil der Krieg näher rückte. Lotte dachte, wenn der Krieg näher rückte, dann auch ihr Bruder, der im Innern des Krieges lebte wie ein Fötus im Innern einer dicken Frau, und sie versteckte sich, um nicht fortzumüssen, denn sie war überzeugt, dass Hans auftauchen würde. Stundenlang suchten sie nach ihr, und als es Abend wurde, fand der Einbeinige sie in ihrem Versteck im Wald, gab ihr eine Ohrfeige und zog sie hinter sich her.
Während sie am Meer entlang immer weiter nach Westen zogen, kamen ihnen zwei Kolonnen Soldaten entgegen, die Lotte laut schreiend fragte, ob sie ihren Bruder kannten. Die erste Kolonne bestand aus Männern mehrerer Generationen, alten Haudegen wie ihr Vater und fünfzehnjährigen Jungen, einige nur in halber
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