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Agonien folgten Karten aus Jamaika oder Indonesien, in denen die Baroness ihn mit festerer Schrift fragte, ob er schon einmal in Amerika oder Asien gewesen sei, wohl wissend, dass Archimboldi nie über den Mittelmeerraum hinausgekommen war.
Zuweilen verging viel Zeit zwischen den Briefen. Wenn Archimboldi umzog, was häufig geschah, schickte er ihr einen Brief mit der neuen Anschrift. Manchmal wachte er plötzlich nachts auf und dachte an den Tod, vermied es aber, in seinen Briefen darüber zu sprechen. Die Baroness dagegen, vielleicht weil sie älter war als er, schrieb oft über den Tod, über die Toten, die sie gekannt hatte, über die Toten, die sie geliebt hatte und die jetzt nur noch ein Haufen Knochen und Asche waren, über die toten Kinder, die sie nicht gekannt hatte, aber gern kennengelernt, gewiegt und großgezogen hätte. Zuweilen konnte man den Eindruck haben, dass sie langsam den Verstand verlor, aber Archimboldi wusste, dass sie immer die Balance hielt, dass sie aufrichtig und ehrlich war. Es kam wirklich selten vor, dass die Baroness irgendeine Lüge erzählte. Alles war sonnenklar seit damals, als sie das Stammhaus ihrer Familie besuchte, auf der unbefestigten Straße eine Staubwolke hinter sich herziehend, in Begleitung ihrer Freunde, der Berliner Jeunesse dorée, ignorant und überheblich, denen Archimboldi aus der Entfernung von einem Fenster des Hauses aus zusah, wie sie lachend aus ihren Wagen stiegen.
Einmal, als sie an jene Zeit zurückdachten, fragte er sie, ob sie jemals etwas von ihrem Vetter Hugo Halder gehört habe. Die Baroness verneinte, nach dem Krieg habe sie nie wieder von ihm gehört, und eine Zeitlang, vielleicht nur für Stunden, hing Archimboldi der fixen Idee an, er selbst sei in Wirklichkeit Hugo Halder. Ein andermal, als sie über seine Bücher sprachen, gestand ihm die Baroness, dass sie sich nie die Mühe gemacht habe, eines davon zu lesen, denn selten läse sie »schwierige« oder »dunkle« Romane, wie er sie schreibe. Diese Gewohnheit habe sich mit den Jahren noch verstärkt, und seit ihrem sechzigsten Lebensjahr beschränke sich der Kreis ihrer Lektüren auf Modezeitschriften und Tageszeitungen. Auf Archimboldis Frage, warum sie ihn dann noch verlege, eine eher rhetorische Frage, da er die Antwort kannte, erwiderte sie, a) weil sie wisse, dass er gut sei, b) weil Bubis es ihr aufgetragen habe, c) weil wenige Verleger die Autoren läsen, die sie verlegten.
Bei der Gelegenheit sei noch erwähnt, dass, als Bubis starb, kaum jemand damit gerechnet hatte, dass sie die Verlagsleitung übernehmen würde. Sie hofften, sie würde das Unternehmen verkaufen und sich ganz dem widmen, was man als ihre Lieblingsbeschäftigungen kannte, ihren Liebhabern und ihren Reisen. Die Baroness behielt jedoch die Zügel des Verlags in der Hand, und das Niveau des Hauses sank um keinen Deut, denn sie verstand es, sich mit guten Lektoren zu umgeben, und für die rein unternehmerische Seite des Geschäfts zeigte sie ein Gespür, das man bislang nicht an ihr gekannt hatte. Mit einem Wort: Bubis' Verlag wuchs und gedieh. Manchmal sagte die Baroness halb scherzend, halb im Ernst zu Archimboldi, dass sie ihn, wenn er jünger wäre, als ihren Erben einsetzen würde.
Als die Baroness achtzig wurde, stellte man sich diese Frage in literarischen Kreisen allen Ernstes. Wer würde nach ihrem Tod Bubis' Verlag übernehmen? Wer würde offiziell zu ihrem Erben bestellt? Hatte die Baroness ein Testament aufgesetzt? Wem vermachte sie Bubis' Vermögen? Verwandte gab es keine. Die Baroness war die Letzte derer von Zumpe. Was Bubis betraf, so war mit Ausnahme seiner ersten, in England verstorbenen Frau die gesamte Familie in den Vernichtungslagern verschwunden. Keiner der beiden hatte Kinder. Es gab weder Geschwister noch Vettern und Cousinen (abgesehen von Hugo Halder, der zum gegenwärtigen Zeitpunkt wahrscheinlich schon tot war). Es gab keine Neffen und Nichten (es sei denn, Hugo Halder hätte Kinder gehabt). Man erzählte sich, die Baroness plane, ihr Vermögen, mit Ausnahme des Verlags, wohltätigen Einrichtungen zukommen zu lassen, und einige illustre NGO-Vertreter würden ihr Büro umlagern wie andere den Vatikan oder die Deutsche Bundesbank. An Kandidaten für das Erbe des Verlags mangelte es nicht. Am häufigsten fiel der Name eines fünfundzwanzigjährigen jungen Mannes mit einem Gesicht wie Tadzio und dem Körper eines Schwimmers, Dichter und Lehrbeauftragter in Göttingen, dem die Baroness die Leitung
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