279 - Der Fluch von Leeds
getroffen und ihn ohne seine Tochter weiterziehen lassen.«
»Ich hatte meine Gründe«, verteidigte sich Fletscher.
Doch McGillen hob abwehrend die Hand. »Wir werden nichts unversucht lassen, diesen Mann zu finden. Gleich morgen startet ein EWAT in Richtung Cill Airne. Von dort aus werden Boten in alle Himmelsrichtungen geschickt, die nach Drax suchen sollen. Ann wird so lange in Luimneach bleiben, bis er gefunden wurde. Ist das klar?« Als Fletscher nicht gleich antwortete, fuhr sie fort: »Es steht Ihnen selbstverständlich frei, Ihren Aufenthalt bei uns zu verlängern und abzuwarten, wie sich die Dinge um Ann entwickeln. In diesem Fall wird Allison alleine nach Leeds aufbrechen und Sie werden eine spätere Heimreise selbst organisieren müssen.«
McGillens Worte waren deutlich. Zusammengesunken auf seinem Stuhl hielt Fletscher dem herausfordernden Blick der Kommandantin stand. Auch wenn er sie noch nicht lange kannte, wusste er: Widerspruch war zwecklos. Sowohl in ihrer Position als auch in ihrem gesamten Wesen glich diese Frau einer uneinnehmbaren Festung. Also erklärte er sich zähneknirschend bereit, auch ohne Ann Drax die Reise anzutreten.
Daraufhin erschien wieder dieses hinreißende Lächeln in McGillens Gesicht. »Eine gute Entscheidung.« Sie stand auf und kam zu ihm. »Anns Zustand ist nach der Abreise ihres jungen rothaarigen Freundes labiler denn je. Die psychologische Behandlung bewirkte bisher keine Besserung«, erklärte sie in versöhnlicherem Ton. »Nach wie vor ist sie stumm und verschlossen… und wenn Sie ehrlich sind, Mister Fletscher, zeigt sie sich Ihnen gegenüber geradezu feindselig.«
***
Zur gleichen Zeit wie der Hafenmeister Loxi beobachtete Ann Drax auf der anderen Seite der Palisaden das Ausrollen des EWATs. Die Lichter des fahrenden Kolosses tanzten über den nassen Asphalt. Seine schweren Ketten rasselten und quietschten, als er vor dem Hauptschott des Bunkers zum Stehen kam. Ann wich noch tiefer in den Schatten des Torbogens der alten Kirchenruine zurück. Sie war nicht in der Stimmung, auf irgendwelche Bunkerleute zu treffen.
Traurig starrte sie durch die grauen Regenschnüre. Morgen würde der EWAT nach Cill Airne aufbrechen. Ohne sie! Das hatte das Mädchen vor einer knappen Stunde von der Bunkerpsychologin Grace erfahren. Von dort aus sollte eine Suche nach ihrem Dad organisiert werden. Doch sie, Ann, durfte nicht mitfliegen! Die Suche könne lange dauern. Sie wäre zu klein. Es gäbe niemanden, der sich in der Ferne um sie kümmern könnte. »Hier im Luimneacher Bunker bist du im Augenblick am besten aufgehoben«, hatte die Psychologin erklärt.
Warum glauben alle Erwachsenen immer zu wissen, was gut für mich ist? Die Zehnjährige zog ein düsteres Gesicht. Die Einzigen, denen sie zutraute, das zu wissen, waren ihre Mum und ihr Ziehvater Pieroo.
Doch die waren tot. Bei dem Gedanken daran biss Ann die Zähne zusammen, um nicht losweinen zu müssen.
Sie vermisste die beiden jeden Tag. Unerträglich die Vorstellung, nie mehr die warme Umarmung ihrer Mutter spüren zu dürfen. Nie mehr ihren Geschichten lauschen zu können. Nie mehr Pieroos herzhaftes Lachen zu hören. Doch damit nicht genug: Man sperrte sie ein in dieses Bunkerloch mit Betonwänden und Türen aus Stahl. Im kalten Herzen einer dreckigen, lauten Stadt.
Wie sehr sehnte sie sich nach den grünen Wäldern und Wiesen von Corkaich. Nach dem Brüllen der Wakudas und dem Bellen der Hirtenhunde. Nach dem rauschenden Meer und dem windigen Strand. Dem Strand, an dem sie so oft Ausschau nach ihrem Dad gehalten hatte. Dem Mann aus der Vergangenheit, den sie nur aus den Erzählungen ihrer Mutter kannte. Und von der Zeichnung, die sie stets bei sich trug.
Auch an jenem Tag, als Fletscher sie mit sich nahm, hatte sie das baldige Eintreffen ihres Vaters gespürt. Dieser entsetzliche Tag, an dem etwas Unheimliches ihr Dorf überfiel.
So unheimlich, dass es bei der Erinnerung daran Ann immer noch graute. Und die Wochen und Monate danach erschienen ihr wie ein böser Traum. Der einzige Trost nach all den schrecklichen Ereignissen wäre ihr Daddy gewesen. Viel später erst erfuhr sie, dass er tatsächlich nach Corkaich gekommen war. Doch war Ann damals nicht mehr im Dorf, sondern in Fletschers Höhle gewesen. Und Fletscher, der Dreckskerl, verheimlichte das ihrem Vater.
Jetzt rollten doch Tränen über ihre Wangen. Wuttränen! Sie musste zurück nach Corkaich! Sollte ihr Dad noch am Leben sein, würde er eines Tages
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